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Einmal scheint die Sonne wieder

Einmal scheint die Sonne wieder

Titel: Einmal scheint die Sonne wieder
Autoren: Betty McDonald
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aus, und anstatt zu sagen: „Diese trübe Stelle hier ist Tb,“ gaben die Ärzte Sachen von sich wie: „Exsudatives Infiltrat in der Mitte des linken Lungenlappens, das auf eine bronchogene Streuung von der Kaverne hinweist,“ oder: „Infiltration teils exsudativen, teils produktiven Charakters im oberen Drittel des rechten Lungenlappens.“
    Die Patienten traten von einem Fuß auf den anderen und versuchten, ein intelligentes Gesicht zu machen. Die tuberkulosekranken Männer meinten: „Gewiß, Doktor. Ich versteh, Doktor.“ Die tuberkulösen Frauen blähten die Nasenflügel zum Zeichen, daß sie verstanden hätten. Der eine Arzt zeigte der Mutter eines vierzehnjährigen Mädchens die infizierten Stellen und Kavernen in den Lungen ihrer Tochter. Er sagte: „Ihre Tochter ist ein sehr krankes Mädchen. Wenn Sie wollen, daß sie gesund wird, müssen Sie sie ins Sanatorium schicken.“ Die Mutter: „Ich behalte Arlene lieber zu Hause. Sie mag das Essen im Krankenhaus nicht.“ Arlene hatte mattbraunes Haar, einen mattbraunen Teint und einen mattbraunen Polomantel. Sie schaute gelangweilt aus dem Fenster. Die Mutter sagte: „Von der Schule haben sie sie nach Hause geschickt. Die tun, als ob sie Blattern hätte.“ Der Arzt entgegnete: „Ihre Tochter ist sehr krank. Sie kann andere anstecken.“ Er nahm die Röntgenaufnahme noch einmal vor und machte ein ernstes, besorgtes Gesicht, aber er hätte mehr Eindruck machen können, wenn er etwas leichter Verständliches gesagt hätte als: „Rechte bronchopulmonale Lymphknoten.“ Das blaßbraune Mädchen drehte sich zum Fenster und flüsterte heiser: „Ich geh nicht ins Krankenhaus.“ Die Mutter sagte: „Sehen Sie, sie mag das Essen nicht.“ Bald darauf gingen sie fort, und Dede und ich schauten ihnen durchs Fenster nach, als sie lachend und schwatzend die Straße entlanggingen.
    Schließlich war ich beim Chefarzt an der Reihe. Ich riß mich von der Bank los und ging in sein Sprechzimmer. Er saß an einem Schreibtisch und las den Brief von Marys Mann. Flüchtig sah er zu mir auf und setzte dann seine Lektüre fort. An der Wand hinter ihm hing ein großes Bild eines menschlichen Auges. In der Pupille des Auges spiegelte sich eine hübsche junge Frau mit einer eleganten Frisur und einer sehr schlanken Taille. Sie saß an ihrem Toilettentisch und betrachtete sich im Spiegel. In dem Spiegel sah man ihr Gesicht und daneben den Tod, der ihr über die Schulter blickte. Unter dem Bild stand in großen Druckbuchstaben: „Wenn ein Mensch nicht verrückt ist, kann er von jeder Torheit geheilt werden, nur von der Eitelkeit nicht.“ Ich fand, es hätte ebensogut heißen können: „Sie mag das Krankenhausessen nicht.“
    Der Arzt war mit dem Brief zu Ende und sah zu mir auf. Er war kahl und trug zwei Brillen. Sein Gesicht war streng und durchfurcht, die Augen warm und gütig. Er sagte: „Wie alt sind Ihre Kinder?“ Ich: „Neun und zehn Jahre alt.“ – „Jungens oder Mädchen?“ – „Mädchen,“ sagte ich. „Und wer sorgt für sie, während Sie im Fichtenhain sind?“ – „Meine Mutter und meine Schwestern.“ Er sagte: „Wir haben eine Kinderstation im Sanatorium – wenn Sie wollen, können Sie sie da unterbringen.“ Ich antwortete: „Meine Mutter hat für sie gesorgt, seit sie klein waren. Ich glaube, bei ihr würden sie sich wohler fühlen.“
    Er fuhr fort: „Ihre Mutter soll sie hier in die Klinik zur Untersuchung bringen,“ und fügte hinzu: „Sie wissen, wir haben eine lange Warteliste für den ,Fichtenhain‘, von mehr als zweihundert Personen, die alle krank, alle pflegebedürftig sind, aber ich nehme Sie vorweg, weil Sie Kinder haben. Wann könnten Sie kommen?“ Mein „Sofort!“ schien ihn zu überraschen. „Gut, seien Sie am Freitag draußen.“ Dies war Mittwoch. Ich erkundigte mich angstvoll nach der Bezahlung. Er sagte: „Sie werden Ihre Stelle aufgeben müssen, nicht wahr?“ – „Ja.“ Er meinte: „Wenn Sie eines Tages mal viel Geld verdienen, können Sie dafür bezahlen, daß ein anderer gesund wird.“ Dann, als er sah, daß seine Güte mich zu Tränen rührte, schlug er einen anderen Ton an und wurde sehr streng: „Es wird schwierig für Sie sein, sich der Kur zu unterziehen. Sie haben rotes Haar – eine Unmenge Energie, Sie sind lebhaft, aktiv, ungeduldig. Alles schlecht bei Tuberkulose. Disziplin zu halten, wird Ihnen schwerfallen. Und die Tuberkulosekur besteht in nichts anderem als Disziplin.“ Ich sagte, daß ich alles
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