Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Einmal scheint die Sonne wieder

Einmal scheint die Sonne wieder

Titel: Einmal scheint die Sonne wieder
Autoren: Betty McDonald
Vom Netzwerk:
Stevenson

    Am nächsten Morgen wurde ich von Anne und Joan geweckt. Anstatt früh aufzustehen und Blumen für mein Grab zu pflücken, kamen sie ins Zimmer gestürzt, um mich in eine ihrer sinnlosen Zankereien hineinzuziehen. Sie verlangten, ich solle sofort aus dem Bett aufstehen, in ihr Zimmer kommen und mir aus ihrem Fenster die Dachrinne angucken, damit ich an der Zahl der Knubbel, die nicht dahingehörten, feststellen könnte, wer aus einer großen Schachtel mit Kirschen, die sie im Frühjahr geschickt bekommen hatten, das meiste gegessen hätte.
    Meine Schwester Dede, die mitten in die Geschichte mit meinem Frühstückstablett hereinkam, sagte, ihrer Ansicht nach ließe sich die Sache am besten und gerechtesten damit regeln, daß man die beiden an den Füßen aus dem Fenster hielte, während sie die Knubbel einzeln zählten: Jeder in der Familie weiß, daß Dede jedes Wort das sie sagt, auch so meint, und so verzogen sich die Kinder, wobei sie uns mehrmals vernichtende Blicke über die Schultern zuwarfen, und zankten sich bis unten an der Treppe, wer von ihnen das dickste Rechenbuch hätte. Dede rief hinunter, wer das dickste Buch hätte, der hätte auch den dicksten Schädel, wofür wir mit eisigem Schweigen belohnt wurden.
    „Anne und Joan machen es dir wenigstens furchtbar leicht, Abschied zu nehmen,“ sagte Dede vergnügt, als sie auf meinem Bett saß und sich eine Zigarette ansteckte. Dann erbot sie sich, von der Arbeit wegzubleiben und mich in die Klinik zu begleiten, was ich begeistert annahm, denn Dede hat einen sehr unmittelbaren Zugang zum Leben, und man hat oft von ihr gesagt, daß sie mit „beiden Füßen auf der Erde steht“. Manchmal steht sie mit ihren Füßen so fest, daß man kaum ihre Knöchel sehen kann, aber in Notzeiten ist das sehr beruhigend.
    Dede ist als einzige von uns allen klein und still. Sie hat kein rotes, sondern dunkles, welliges Haar, große graue Augen und eine tiefe Stimme. Bei jemand, der so zart und nachdenklich aussieht, sind große Charakterstärke und Gleichmut ganz unerwartete Eigenschaften. Dede bezeichnet sich selbst lediglich als einen Menschen, der den Tatsachen ins Auge sieht. „Euer Fehler ist,“ pflegte sie Mary, Madge, Alison und mir zu sagen, „daß ihr euch, wenn ihr mit einem kleinen, langweiligen Mann verabredet seid, einredet, er hätte als kleines Kind Wachstumsstörungen gehabt und sei nicht langweilig, sondern übermüdet. Ich sehe der Tatsache ins Auge, daß ich den Abend mit einem kleinen, langweiligen Peter verbringen werde, und nehme mir vor, irgendwohin zu gehen, wo noch mehr Leute sind und wir uns hinsetzen können.“
    Bei unserer Ankunft erfuhren wir, daß die Fichtenhain-Klinik sich mit dem Polizeirevier, dem städtischen Gefängnis, der Unfallstation und dem Krankenhaus für Geschlechtskrankheiten in ein Gebäude teilte. Der dunkle, alte Fahrstuhl schien sich von einem seiner Hausherren ein bösartiges Leiden geholt zu haben, denn sobald er besetzt war, keuchte und pustete er, die Luft blieb ihm weg, er fiel einen halben Meter zurück, schwankte eine Weile unsicher hin und her und kämpfte sich schließlich, unter Aufraffung der letzten Reste seiner Kraft, in den zweiten Stock hoch. Aus der ganzen Umgebung und der schlechten Beleuchtung schlossen Dede und ich, daß alle anderen Benutzer des Fahrstuhls Ganoven und Prostituierte seien, und waren sehr enttäuscht, als die meisten mit uns hinausmarschierten und in die Tb-Klinik gingen. Im hellen Tageslicht der Klinik stellte sich heraus, daß sie ganz durchschnittliche Menschen waren. Ein paar waren besser als der Durchschnitt. Alle waren traurig.
    Die Klinik war ein bedrückender Aufenthaltsort voll goldgelber Eichenbänke, verbrauchter Luft und anderer Tuberkulosekranker. Die Schwester am Pult nahm meinen Brief, las ihn und fragte mich mißtrauisch, wer mich denn „dahin“ geschickt hätte. Sie zeigte mit ihrem Bleistift auf den Absatz des Briefes, in dem der Name des Spezialisten für Lungenkrankheiten genannt wurde. Ich erzählte es ihr, konnte aber nicht einsehen, was das zu besagen hatte. Es hatte offensichtlich sehr viel zu besagen, denn dieser Spezialist schien sein eigenes Sanatorium zu haben, und die Schwester gab mir zu verstehen, wenn ich dort gewesen sei und deren Methoden gelernt hätte, habe ich auf einer ihrer Bänke nichts zu suchen. Sie gab mir außerdem zu verstehen, daß Tuberkulose etwas ein klein wenig Apartes sei und sie noch nicht genau wisse, ob sie mir das
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher