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Einer trage des anderen Schuld

Einer trage des anderen Schuld

Titel: Einer trage des anderen Schuld
Autoren: Anne Perry
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gar keinen Hunger. Ich habe es nur ganz gern, wenn ich irgendwas esse. Du kannst die Milch haben, wenn du sie willst.«
    »Ich trink die Hälfte«, erklärte Scuff. Nahrung war wertvoll; er nahm es stets sehr genau mit der gerechten Verteilung.
    Hester lächelte. »Ist recht.« Und damit er sich beim Essen unbefangener fühlte, griff sie ebenfalls nach einem Keks.
    Scuff beäugte sie immer noch wachsam, gelangte dann aber zu dem Schluss, dass ihr Angebot aufrichtig gemeint war. So nahm er sich den letzten Keks und verspeiste ihn mit drei Bissen.
    Sie lächelte ihn an, und einen Augenblick später grinste er zurück.
    »Bist du schläfrig?«, wollte sie wissen.
    »Nein …«
    »Ich auch nicht.« Sie rutschte ein Stück nach hinten, damit sie sich an das Kopfende lehnen konnte, wahrte aber weiter eine halbe Armeslänge Abstand zu ihm. »Manchmal lese ich, wenn ich in der Nacht wach bin, aber im Augenblick habe ich kein gutes Buch. Und die Zeitung ist voll mit allen möglichen Geschichten, die ich bestimmt nicht wissen will.«
    »Was für Geschichten?« Er drehte sich so zu ihr, dass er sie besser sehen konnte.
    Sie berichtete ihm von gesellschaftlichen Ereignissen, von denen sie gehört hatte, und fügte ergänzend hinzu, wann sie stattgefunden hatten und wer daran beteiligt gewesen war. Das Thema interessierte weder sie noch ihn, aber sie hatten etwas zu reden. Sehr bald schweifte sie ab, und andere Veranstaltungen fielen ihr ein, mit denen sie persönliche Erinnerungen verband. Ausführlich beschrieb sie Kleider und Speisen, Verhaltensweisen, schlagfertige Bemerkungen, Flirts, kurz: alles Mögliche, um ihn abzulenken. Sogar die unselige Trauerfeier fiel ihr wieder ein, bei der ihre Freundin in einem von ihr nicht beabsichtigten Vollrausch für einen Skandal gesorgt hatte. Mitten in einer Geigendarbietung war sie auf die Bühne geklettert und hatte der äußerst ernsten jungen Geigerin die Violine entrissen, um dann selbst mehrere beliebte Varieténummern zum Besten zu geben und von Stück zu Stück frivoler zu werden.
    Kichernd versuchte Scuff, sich die Situation auszumalen. »Und das war schlimm?«, fragte er.
    »Verheerend!«, bestätigte Hester voller Genuss. »Sie verriet den Leute die ganze Wahrheit darüber, was für ein Angsthase der Tote gewesen war und warum sie tatsächlich gekommen waren. Damals war es entsetzlich, aber jetzt muss ich jedes Mal lachen, wenn ich daran denke.«
    »Sie war Ihre Freundin.« Scuff sagte das letzte Wort ganz langsam, schmeckte geradezu seinen Wert.
    »Ja, das war sie.«
    »Haben Sie ihr geholfen?«
    »So gut ich konnte.«
    »Fig war mein Freund«, murmelte Scuff. »Ich hab ihm nich’ geholfen. Und die andern genauso wenig.«
    »Ich weiß.« Hester spürte einen Kloß im Hals. Einen, der hart war und schmerzte. Fig war einer der Jungen, die Jericho Phillips ermordet hatte. »Das tut mir sehr leid«, flüsterte sie.
    »Jetzt lässt sich nix mehr ändern«, stellte Scuff nüchtern fest. »Sie haben Ihr Bestes getan. Niemand kann so was aufhalten.« Er rutschte eine Handbreit näher an sie heran. »Erzählen Sie mir mehr von Rose und den andern.«
    Oft genug hatte Hester die Schuldgefühle gesehen, die sich in den Gesichtern von Überlebenden spiegelten, deren Kameraden getötet worden waren. In ihrer Zeit als Krankenschwester im Krimkrieg hatte sie nur allzu oft gehört, wie Soldaten in den gleichen Alpträumen aufschrien und mit dem gleichen entsetzten, hilflosen Blick aufwachten und fassungslos die Bequemlichkeit um sie herum anstarrten und das Grauen in ihrem Inneren entdeckten.
    Allein schon deshalb versuchte sie, an etwas anderes, Schöneres zu denken, das sie Scuff erzählen könnte, um die Erinnerungen an seine verlorenen Freunde zu vertreiben. So schmückte sie ihre Anekdoten noch ein wenig aus, bis sie bemerkte, dass ihm die Augen zufielen. Sie senkte die Stimme, senkte sie dann noch etwas mehr. Er war inzwischen so nahe, dass er sie berührte und sie seine Wärme durch die Decken zwischen ihnen spürte. Ein paar Minuten später schlief er. Ohne sich dessen bewusst zu werden, hatte er den Kopf an ihre Schulter gelehnt. Sie verstummte und blieb, wo sie war. Auch wenn ihre Haltung etwas verkrampft war, rührte sie sich bis zum Morgen nicht von der Stelle. Und als Scuff aufwachte, tat sie so, als hätte sie ebenfalls geschlafen.
    Nach dem Frühstück mit heißem Porridge, Toast und Marmelade schickte Monk den Jungen auf einen Botengang, dann wandte er sich an
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