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Einer trage des anderen Schuld

Einer trage des anderen Schuld

Titel: Einer trage des anderen Schuld
Autoren: Anne Perry
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Dummerweise brannten ausgerechnet jetzt Tränen in ihren eigenen Augen, und zudem schnürte ihr die Angst vor den Folgen für Rathbone die Kehle zu, falls Sullivan die Wahrheit gestanden hatte und er sich ihr stellen musste.
    »Er hat immer noch schreckliche Alpträume«, antwortete sie mit leicht belegter Stimme. »Ich fürchte, das wird noch …« Sie zögerte. »Dauern.« Wie ausweichend, da sie doch eigentlich hatte sagen wollen: »… bis er glaubt, dass es vorbei ist und nicht wieder geschehen kann.«
    »Was ist nötig, damit er jemals darüber hinwegkommt?«
    »Ich weiß es nicht. Wirklich daran glauben können, dass es für seine Freunde und andere Jungen wie ihn vorbei ist.«
    Ein winziges Lächeln spielte um Rathbones Mundwinkel. »Er würde Ihnen nie glauben, Hester. Sie sind eine fürchterlich schlechte Lügnerin. Immer sofort durchschaubar.«
    Sie blickte ihn mit schalkhaft funkelnden Augen an. »Oder aber ich bin so gut, dass Sie mich nie ertappt haben?«
    Vor Überraschung klappte ihm der Unterkiefer herunter. Dann brach er in schallendes Lachen aus.
    In diesem Moment platzte Margaret herein. Hester drehte sich zu ihr um. Mit einem Mal bekam sie, wenn auch völlig unnötig, Gewissensbisse. Zu ihrer Erleichterung jedoch trat Rathbone mit vor Freude leuchtendem Gesicht auf seine Frau zu.
    »Margaret. Mein großer Fall ist erledigt! Hast du Zeit, mit mir zu Mittag zu speisen?«
    »Mit dem größten Vergnügen!«, antwortete sie, ohne Hester eines Blickes zu würdigen. »Vor allem, wenn du mir dabei helfen kannst zu überlegen, an wen ich noch alles herantreten könnte, um für Spenden zu werben. Jetzt haben wir zwar neue Betttücher, aber bald werden wir Töpfe und Teekannen brauchen.« Sie wies ihn nicht darauf hin, dass sie die Einzige war, die Spenden sammelte, aber die unausgesprochenen Sätze standen im Raum.
    Hester machte sich schwere Vorwürfe, weil sie selbst kein Geld sammelte, andererseits genoss Margaret aufgrund ihrer Ehe mit Rathbone eine Stellung in der Gesellschaft, die Hester für immer verwehrt bleiben würde. Das war eine Tatsache, die ihnen beiden bewusst war, ohne dass es eines Wortes bedurfte. Außerdem erübrigte sich jeder Hinweis darauf, dass Margarets verbindliche Art und natürliche, gute Sitten viel mehr Früchte eingebracht hatten als Hesters unverblümte Freimütigkeit. Die Menschen hatten eben gern das Gefühl, dass sie ihre christliche Pflicht gegenüber den weniger vom Glück Begünstigten erfüllten, aber sie wollten eindeutig nichts davon wissen, dass sie ihnen dergleichen schuldeten. Und ganz gewiss wollten sie keine näheren Einzelheiten über Armut oder Krankheiten erfahren. Das war beunruhigend, ja, in manchen Fällen zutiefst anstößig.
    »Danke«, sagte Hester freundlich, auch wenn sie das eine gewisse Anstrengung kostete. »Das wäre ganz sicher eine große Hilfe.«
    Lächelnd hängte sich Margaret bei Rathbone ein.
    Hester hatte bis weit in den Nachmittag hinein nichts zu sich genommen außer einem kalten Käsesandwich und einer Tasse Tee. Das hinderte sie freilich nicht daran, einer der Frauen beim Schrubben zu helfen. Und als Rupert Cardew ankam, traf er sie mit einer Bürste in der Hand vor einem Eimer Seifenlauge auf dem Boden kniend an. Erst hörte sie Schritte, dann fiel ihr Blick auf blankpolierte Stiefel, die etwa einen Meter vor ihr stehen blieben.
    Sie setzte sich auf die Fersen und schaute langsam auf. Er war mindestens so groß wie Monk, aber blond, während ihr Mann dunkle Haare hatte. Er hatte die Klinik schon öfter besucht, da er sich an ihrer Finanzierung beteiligte, sodass er sich entspannt, um nicht zu sagen lässig geben konnte. Monk dagegen war stets von intensiver Lebhaftigkeit und immer auf dem Sprung.
    »Tut mir leid.« Rupert grinste. »Wollte Sie nicht auf den Knien ertappen. Aber falls Sie gerade um mehr Geld gebetet haben, sind Sie erhört worden. Ich habe die Antwort dabei.«
    Sie rappelte sich auf, ohne die hilfsbereit ausgestreckte Hand zu ergreifen. Ihr schlichter blauer Rock war um die Knie nass; und auch die bis zu den Ellbogen hochgekrempelte weiße Bluse, die von keinerlei Spitzen geziert wurde, war stellenweise durchnässt. Ihr Haar – nicht immer ihr schönster Schmuck –, das mit einer Klammer nach hinten gesteckt war, hatte sie mehrmals zurückgeschoben, sobald eine Strähne sich gelöst hatte, sodass es längst jede Form verloren hatte.
    »Guten Tag, Mr Cardew.« Obwohl ihr der Adelstitel seines Vaters sehr wohl
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