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Einer trage des anderen Schuld

Einer trage des anderen Schuld

Titel: Einer trage des anderen Schuld
Autoren: Anne Perry
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plauderte. Zwischendurch vergaß Hester sogar die große Küche um sie herum – die Kannen und Töpfe, den Herd und im Raum nebenan die Kupferkessel für die Kochwäsche, die Waschzuber, die Ausgussbecken in der Waschküche, die Regale voller Gemüse in der Kammer. Sie hätte als junge Frau zu Hause bleiben können – vor fünfzehn Jahren war das gewesen, vor dem Krieg, vor der Erfahrung, der Leidenschaft, dem Kummer, dem wahren Glück. Damals hatte sie noch so etwas wie Unschuld in sich gehabt, alles war möglich gewesen. Ihre Eltern hatten noch gelebt; ebenso ihr jüngerer Bruder, der später auf der Krim gefallen war. Die Erinnerungen waren sowohl süß als auch schmerzhaft.
    Bewusst wechselte sie nun das Thema. »Wir sind sehr dankbar für Ihr Geschenk. Ich hatte Lady Rathbone gebeten zu versuchen, Geldgeber zu finden, aber das ist immer schwierig. Wir bitten in einem fort, denn ständig fehlt es bei uns an allen Ecken und Enden, aber die Leute haben uns langsam satt.« Ein leicht betrübtes Lächeln flackerte über ihr Gesicht.
    »Lady Rathbone? Ist sie nicht die Frau von Sir Oliver?«, fragte er sichtlich interessiert, obwohl nicht ganz auszuschließen war, dass er sich nur der Höflichkeit halber erkundigte.
    »Ja. Kennen Sie sie?«
    »Nur von Hörensagen.« Die bloße Vorstellung schien ihn zu amüsieren. »Unsere Wege kreuzen sich nicht, außer vielleicht im Theater, und ich wage zu behaupten, dass er dort nur aus geschäftlichen Gründen hingeht und sie, um gesehen zu werden. Ich gehe hin, weil ich es genieße.«
    »Ist das nicht der Grund für die meisten Ihrer Unternehmungen?«, erwiderte Hester, nur um sich im nächsten Moment zu wünschen, sie hätte sich auf die Zunge gebissen. Ihre Bemerkung war zu scharfsinnig gewesen, zu spitz.
    Er schnitt eine Grimasse, wirkte aber keineswegs verletzt. »Sie sind so ziemlich die einzige wahrhaftig tugendhafte Frau, die ich tatsächlich mag«, gestand er in einem Ton, als staunte er über sich selbst. »Sie haben, Gott sei Dank, nie versucht, mich zu erlösen.«
    »Gute Güte!« Sie riss die Augen auf. »Wie fahrlässig von mir! Hätte ich das denn tun sollen, wenigstens um des Anscheins willen?«
    »Wenn Sie mir sagten, Ihnen läge am äußeren Schein, würde ich Ihnen nicht glauben«, entgegnete er, vergeblich um einen ernsten Ton bemüht. »Allerdings gibt es für manche nichts anderes.« Plötzlich schien er angespannt, und seine Halsmuskeln zuckten. »War es nicht Sir Oliver, der Jericho Phillips verteidigt und rausgepaukt hat?«
    Für einen Moment überlief es Hester eiskalt, weil sie daran erinnert worden war. »Ja«, sagte sie mit so ausdrucksloser Miene wie möglich.
    »Schauen Sie nicht so drein«, mahnte er sie sanft. »Dieser erbärmliche Teufel hat ja am Ende doch noch gekriegt, was er verdient hatte. Er ist ertrunken, und zwar ganz langsam, und hat gespürt, wie das Wasser mit der hereinströmenden Flut Zoll um Zoll an seinem Körper hochgekrochen ist. Dabei hatte er doch immer so schreckliche Angst vor dem Ertrinken, eine richtige Phobie. Für ihn war das viel schlimmer, als gehängt zu werden, was binnen Sekunden vorbei sein soll, heißt es.«
    Sie starrte ihn an. Ihre Gedanken überschlugen sich.
    Er errötete, was bei seiner hellen Haut leicht geschehen konnte. »Verzeihen Sie. Das waren jetzt bestimmt mehr Details, als Sie wissen wollten. Ich hätte das nicht sagen sollen. Manchmal spreche ich zu offen mit Ihnen. Ich bitte um Entschuldigung.«
    Es waren nicht die Details, die das eisige Gefühl in ihr ausgelöst hatten. Schließlich hatte sie mit eigenen Augen verfolgt, wie Jericho Phillips gestorben war. Sie hatte sein totes Gesicht gesehen. Nein, es war vielmehr die Tatsache, dass Rupert Cardew von Phillips’ panischer Angst vor dem Wasser wusste. Das bedeutete, dass er Phillips persönlich gekannt hatte. Sie versuchte, sich zu fassen. Nun, warum sollte sie das überraschen? Rupert hatte kein Geheimnis daraus gemacht, dass er mit Prostituierten verkehrte und bereit war, für sein Vergnügen zu zahlen. Vielleicht war das sogar ehrlicher, als Frauen zu verführen und dann sitzen zu lassen, womöglich sogar mit einem Kind. Jericho Phillips war von einem ganz anderen Kaliber gewesen: Erpressung, Missbrauch von kleinen Jungen, die teilweise gerade erst sechs oder sieben Jahre alt waren. Vielleicht hatte er Phillips ja nur flüchtig gekannt, ohne zu ahnen, was er alles trieb? Oder war das eine der vielen Verlegenheiten, aus denen ihm sein Vater
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