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Eine Wohnung mitten in der Stadt (German Edition)

Eine Wohnung mitten in der Stadt (German Edition)

Titel: Eine Wohnung mitten in der Stadt (German Edition)
Autoren: Stephan Niederwieser
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durften; indessen legt die Sonne mit ihrem goldenen Herbstlicht einen geschmeidigen Schimmer über die Welt.
    Sie tragen schwarz. Alle tragen schwarz. Wie traurig. Von hier aus betrachtet scheint es so unangemessen für ein Ereignis wie dieses. Wenn ich ihnen nur zu verstehen geben könnte, wie erleichtert ich bin. Aber ich weiß: Beerdigungen sind die einzigen Momente, an denen es erlaubt ist, die Trauer öffentlich zu zeigen, die wir als Menschen ein Leben lang mit uns herumtragen.
    Und wie viele gekommen sind! Es ist mir unangenehm. All die Nachbarn, fast die ganze Kirchengemeinde, sogar ein paar von Bernhards Freunden sind nach Heidelberg gekommen: Lipstick, Kim und Herr Max. Seit Tagen trifft er sich zwar mit einem jungen Mann – Gernot heißt er und ist Vertreter für pharmazeutische Produkte –, aber für mich hat Max sich Zeit genommen. Er ist ein lieber Kerl, er hat immer Angst vor den Menschen gehabt, doch jetzt sieht er erleichtert aus.
    Auch der junge Malvyn ist gekommen. Meinetwegen hat er seinen Rückflug verschoben; das ist doch nicht nötig gewesen. Malvyn ist nicht glücklich in Deutschland. Er wird gehen, obwohl ihm Junior gesagt hat, wie gern er ihn hat. Junior hat ihn sogar gebeten zu bleiben, aber Malvyn wird trotzdem gehen, weil er Sehnsucht nach seinem Zuhause hat. Aber sobald er im Flugzeug sitzt, werden ihm Tränen in die Augen schießen, weil er alles vermißt, was er hier zurücklassen wird: Edvard, Bernhard, Max, Hannah. Jeden Tag wird er mit Junior telefonieren, jeden Tag, und ihm Briefe schreiben. Er wird wiederkommen wollen und doch auch nicht. So ist die Liebe. Sie tut weh. Das ist Beziehung: ein ewiges Zerren zwischen Nähe und Distanz. Niemand kann sich davor schützen.
    Bernhard, mein Kleiner. Jetzt hat er einen schwarzen Anzug gekauft. Ich hab ihm doch gesagt, daß es an der Zeit ist, sich einen zuzulegen. Bald wird er ihn noch öfter brauchen. Edvard steht an seiner Seite, zwischen den Familien meiner Töchter. Es ist gut so. Dort gehört er hin. Jetzt kann ich es sehen. Sie halten Hannah an den Händen, das kleine Goldkind, sie ist ganz zappelig. Sie will zu Herrn Raimondo auf den Arm. Aber er kann sie nicht nehmen. Er weint, Papa. Er weint um mich. Aber du mußt nicht traurig sein: Die Liebe ist unendlich; sie reicht für mehr als einen Menschen.
    Meine kleine Barbara. Wie tapfer sie sich hält. Auch sie wird ihren Weg finden. Sie weiß es noch nicht, aber in zwei Tagen wird sie Mutter sein, und dann wird auch sie lernen, was es heißt, Verantwortung zu übernehmen. Und das Mädchen wird sie schon erziehen. Es ist an der Zeit.
    Wo ist mein Großer? Ludwig, mein Ludwig. Er steht weit ab, inmitten der Gemeinde. Er mag sich nicht zur Familie stellen; er mag sich nicht zeigen. Ich kann ihn verstehen.
    Und Divja? Meine liebe Divja hat sich als einzige in Farben gehüllt. Sie trägt einen Strauß Rosen; es sind die Rosen aus unserem Garten, Papa. Siehst du? Du hast sie gepflanzt, weißt du noch? Es sind meine Lieblingsrosen. Immer wenn ich Sehnsucht nach dir hatte, habe ich an ihnen gerochen und mich an das Gesicht erinnert, das du gemacht hast, als die ersten Knospen sprießten.
    Der Pfarrer tritt zurück. Siehst du, Theo? Und Frau Zippel von der Kirchengemeinde hält eine Rede: „Wir trauern um Frau Moll. Aber wir trauern auch, weil wir ein wertvolles Mitglied unserer Gemeinde verloren haben …“
    Es ist eine schöne Rede. Hörst du? Sie reden über mich. Sie bedanken sich für alles, was ich getan habe. O danke, ihr seid so lieb.
    Guck, jetzt geht Bernhard nach vorne.
    „Als meine Mutter Ende letzten Jahres ihren Besuch ankündigte, fragte ich mich, ob das gut gehen könnte. Meine Mutter in unserem Haus …“
    Was denkt er sich nur? Unser Junge. Kannst du hören, was er sagt, Theo?
    „Sie war eine weise Frau. Nicht weil sie durch intelligente Sprüche brilliert hätte, nein, es war ihre Einfachheit, mit der sie unsere Herzen berührte. Sie half uns, unsere grauen Haare besser zu ertragen und …“
    Wer hätte das gedacht? Ich werde einfach nicht schlau aus ihm. Da lebt man Monate mit ihm zusammen, und er bleibt stumm wie ein Stockfisch. Dann sagt er solche Sachen.
    „Es sind die Gesten, nicht die Worte. Das ist vielleicht die wichtigste Lektion, die ich von ihr gelernt habe. Und dadurch werde ich immer mit ihr verbunden bleiben.“
    Er wirft eine Rose auf meinen Sarg. Er hat kein einziges Mal gesagt, daß er mich liebt, Papa, aber er hat mir eine Rose geschenkt. Ach, was
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