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Eine Wohnung mitten in der Stadt (German Edition)

Eine Wohnung mitten in der Stadt (German Edition)

Titel: Eine Wohnung mitten in der Stadt (German Edition)
Autoren: Stephan Niederwieser
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den Strom stellen“, sagte ich mir und verband meine Trauer und meine Angst mit meinem Atem. Ein und aus, ein und aus.
    „Nicht mehr sinnvoll“, flüsterte Bernhard noch einmal.
    Sobald wir wieder auf dem Gang standen, bat mich Bernhard, seine Geschwister anzurufen. „Ich bleibe hier. Vielleicht werde ich gebraucht.“
    Ich zögerte, aber ich glaubte auch, daß dies sinnvoll war. Ich programmierte die Nummern auf dem Handy. „Brauchst du was aus dem Automaten?“ fragte ich ihn. „Wasser, Bier, Kaffee?“
    Er rieb sich das Gesicht. „Schon okay“, murmelte er.
    Halb drei am Morgen. Es dauerte, bis Gudrun ans Telefon kam. Sie sagte, sie wäre schon am Wagen gewesen, um loszufahren, weil sie das Warten nicht ertragen konnte. „Dann fahr los“, sagte ich und spürte schon den nächsten Schwall von Trauer in mir aufsteigen.
    „Sag in einem Satz, wie es ihr geht“, bat sie mich, aber statt zu reden, konnte ich nur heulen. „Ich fahr, so schnell ich kann“, sagte sie leise und hängte ein.
    Sieglinde nahm mit dem ersten Klingeln ab – sie mußte neben dem Telefon gesessen haben. Ich erklärte ihr alles, mußte aber zwischendrin immer wieder Pausen einlegen, weil es mir den Hals zuschnürte.
    „Hört sich an, als würde jede Sekunde zählen“, sagte sie, „ich beeil mich“, und legte auf. Dabei hatte ich gehofft, sie würde die anderen Geschwister anrufen.
    Bei Ludwig nahm keiner ab. Ich ließ es lange läuten. Nicht mal ein Anrufbeantworter war dran. So blieb nur noch Barbara.
    „Wer?“ fragte sie verschlafen.
    „Edvard, der Freund von Bernhard.“
    „Ach.“
    „Ich rufe an, um dich über den Zustand deiner Mutter zu informieren.“
    „Warum ruft Bernhard nicht selber an?“ Jetzt wußte ich, warum Berni kein Interesse am Kontakt mit ihr hatte. „Wissen Sie eigentlich, wie spät es ist?“ fragte sie spitz.
    „Ihre Mutter wird das nicht überleben“, sagte ich; es war brutal, aber ich hatte keine Nerven, mich zu streiten.
    Es entstand eine lange Pause, dann sagte sie kleinlaut. „Wir wohnen hier auf dem Land. Der nächste Zug geht erst am Morgen. Ich kann erst gegen Mittag da sein.“
    Bernhard und ich blieben in der Klinik. Alle paar Stunden durften wir für ein paar Minuten zu ihr. Und jedesmal, wenn ich an ihrem Bett stand, visualisierte ich einen Kranz aus weißem Licht um Lydias Körper herum. Ich stellte mir vor, wie sie dieses Licht einatmete und ausatmete und dabei immer gesünder wurde.
    Als wir um kurz vor sieben an ihr Bett herantraten, ragte ein ziehharmonikaförmiger Tubus aus ihrem Mund. Er hob und senkte sich in einem langsamen Rhythmus. Lydias Haut war grau und faltig, sie schien um zehn Jahre gealtert. Ich mußte daran denken, wie rosig sie noch aussah, als sie vor weniger als zwölf Stunden mit Raimondo telefoniert hatte. Raimondo? Sollten wir ihn anrufen?
    Ich schaute zu Bernhard hinüber. Wie bei jedem Besuch legte er seine Hand kurz auf das Bein seiner Mutter und ging dann wieder hinaus. Es kam mir fast so vor, als würde er versuchen zu fühlen, wie lange es noch dauerte. Er sprach nicht. Weder mit mir, noch mit Lydia.
    Ich hatte immer das Gefühl, ich müßte zu ihr sprechen, fast so, als könnte ich mit den richtigen Worten alles rückgängig machen. Aber mir fiel nichts ein. Gar nichts.

Bernhard *
     
    „Bist du alleine gekommen?“ fragte ich Gudrun, als sie um halb acht den Gang herunterkam. Sie fiel mir in die Arme und weinte, es war ein weiches Weinen, mutlos, dabei hatte sie Mutter noch nicht einmal gesehen.
    „Karl kommt morgen nach. Wir wollten die Kinder nicht mitbringen. Er muß erst jemand finden, der auf sie aufpaßt.“
    „Willst du einen Kaffee?“ fragte Edvard. Meine Schwester schüttelte den Kopf und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht.
    „Na? So schnell sieht man sich wieder“, sagte sie und versuchte zu lächeln. Aber die Trauer siegte und ließ sie gleich wieder weinen. Ich hielt sie fest; auch Edvard liefen die Tränen herunter.
    „Habt ihr wenigstens ein bißchen geschlafen?“ fragte sie, als sie sich beruhigt hatte. Edvard verneinte.
    Wir setzten uns, und ich überlegte, wie ich sie auf das vorbereiten konnte, was sie hinter dieser Stahltür erwartete: die kalten Hände unserer Mutter, die Starre, die weiße Creme in den Augen, um sie vor dem Austrocknen zu schützen. „Wenigstens scheint es so, als müßte sie nicht leiden“, sagte ich, einfach nur um irgendwas zu sagen.
    „Das weiß man nicht so genau“, sagte meine Schwester und
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