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Eine Wohnung mitten in der Stadt (German Edition)

Eine Wohnung mitten in der Stadt (German Edition)

Titel: Eine Wohnung mitten in der Stadt (German Edition)
Autoren: Stephan Niederwieser
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nannten wir ihn während meiner Zivildienstzeit. Edvard, Gudrun, Sieglinde und ich schauten uns gegenseitig an. Ich sprang auf und lief zur Tür.
    „Nein“, versicherte die Schwester, die den Schrecken in meinen Augen sah. „Um Gottes willen, behalten Sie die Ruhe. Wir würden Sie selbstverständlich sofort informieren.“
    Ich drehte mich zu den anderen um, während der Blechsarg an mir vorbeigeschoben wurde, und warf ihnen einen Blick der Entwarnung zu.
    „Gibt es was Neues?“ fragte ich.
    „Ihr Zustand ist stabil. Haben Sie schon mit Ihren Geschwistern gesprochen oder möchten Sie, daß der Arzt es tut?“
    Ich schüttelte den Kopf. „Meine jüngste Schwester kommt gegen zwölf. Können wir noch so lange warten?“
    „Sicher“, sagte sie und legte mir die Hand auf den Arm. Sicher, das klang unsicher wie: Mal sehen, ob sie noch so lange lebt.
    „Lassen Sie sich ruhig Zeit“, sagte sie dann noch. „Ich muß aber jetzt die Tür schließen.“ Sie deutete mit einem Blick auf den Silberpfeil, und ich zog die Tür zu.
    Ich ging zurück an meinen Platz. Gudrun, der schon seit einiger Zeit immer wieder die Augen zufielen, schaute mich fragend an.
    „Was Neues?“ fragte Sieglinde. Ich schüttelte den Kopf.
    Der Arzt hatte mir heute morgen schon gesagt, daß Mutter ohne künstliche Beatmung nicht mehr überleben könnte. Was das Ödem im Einzelnen geschädigt hatte, verstand ich nicht, aber es war auch unerheblich. Einzig entscheidend war die Gewißheit, daß unsere Mutter, selbst wenn sie das hier überlebte, nie mehr dieselbe sein würde wie vor dem Hirnschlag. Abgesehen von den Dauerschäden, die auch nach dem Abschwellen des Ödems bleiben würden, waren da die Metastasen.
    „Glauben Sie mir“, hatte der Arzt gesagt, „Ihre Mutter hatte Glück, daß es so gelaufen ist.“ Er hat es sicher gutgemeint.
    Ich hätte meinen Schwestern davon erzählen können, aber die wenigen Worte, die zwischen uns gesprochen wurden, konzentrierten sich vor allem auf die letzten Tage. Sie hungerten nach Details: Ob sie denn zum Schluß noch etwas von sich gegeben hätte? Ob sich der Hirnschlag angekündigt hatte? Es kam mir vor wie ein Datensammeln, Momente, Ereignisse, aus denen wir versuchten, den Menschen, der sie gelebt hatte, wieder zusammenzufügen – vielleicht ein natürlicher Impuls, wenn man einen Menschen verliert, der einem wichtig ist. Man versucht alles festzuhalten, was nicht vergänglich ist.
    Vergangenheit, alles Vergangenheit. Zu keinem Moment wagten sie, von der Zukunft zu sprechen. Auch ich schwieg darüber; ich war der letzte, der sie ihnen verderben wollte.
    Edvard sprang plötzlich auf: „Ich brauche frische Luft.“
    Das weckte Gudrun auf. „Willst du nicht mal nach Hause gehen?“ fragte sie mich, aber ich schüttelte den Kopf.
    „Ja, wirklich. Ihr solltet euch ein wenig hinlegen“, sagte Sieglinde. „Ihr seht todmüde aus.“
    Edvard schaute mich fragend an, aber ich verneinte. Einer mußte ja hier bleiben, der einen klaren Kopf behielt.
    „Bernhard und ich bleiben hier“, sagte Edvard. „Aber vielleicht wollt ihr mal in die Wohnung, duschen oder schlafen. Ihr seid beide weite Strecken gefahren.“
    Meine Schwestern schüttelten den Kopf.
    „Also, ich komm dann gleich wieder“, sagte Edvard. „Ich muß nur einfach mal …“
    „Geh schon!“ sagte ich unwirsch, Gudrun und Sieglinde schauten mich erschrocken an. „Geh!“ sagte ich sanfter jetzt und stützte meinen Kopf in die Hände.
    Edvard lief weg, und wir fielen wieder ins Koma.
    „Hast du mit Malvyn telefoniert?“ fragte ich Edvard, als er von seinem Spaziergang zurückkam. Gudrun hatte die Augen geschlossen, Sieglinde streckte sich auf drei Stühlen aus.
    Er nickte.
    „Und?“
    „Er wollte vorbeikommen, aber ich habe ihm gesagt, daß er noch zu Hause bleiben soll, bis Barbara hier eintrifft. Dann könnten wir uns ja abwechseln.“
    „Mal sehen“, sagte ich.
    „Die Mobilbox war voll, alle haben angerufen. Ich hab Malvyn gebeten, sie zurückzurufen und ihnen zu sagen, was los ist.“
    „Hast du ihm auch gesagt, daß keiner herkommen soll?“ fragte ich. „Es nützt niemandem was, wenn hier fünfzehn Leute rumsitzen.“
    „Natürlich. Das ist ihnen sowieso klar.“ Er legte seine Hand auf meine Schulter, massierte meinen Nacken, der sich anfühlte wie Holz.
    „Manu!“ Sieglinde schreckte aus dem Schlaf. „Manu! Ich habe sie ganz vergessen.“ Sie schüttelte den Kopf, vermutlich um ihre Gedanken von den Träumen zu
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