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Eine Wohnung mitten in der Stadt (German Edition)

Eine Wohnung mitten in der Stadt (German Edition)

Titel: Eine Wohnung mitten in der Stadt (German Edition)
Autoren: Stephan Niederwieser
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eine Entscheidung treffen müßten, die wir bis ans Ende unseres Lebens nicht vergessen würden.

Lydia *
     
    Das Sterben war einfach. Es ist wie das Gefühl kurz vor dem Einschlafen: Man wird ganz leicht; es kommt einem vor, als wäre man der Wind und die Sonnenstrahlen zugleich, warm und dünn, überall und nirgends, mit allem verbunden und doch nicht greifbar. Man ist hellwach, viel wacher als im Leben, und doch kommt es einem vor wie ein Traum. Die Wirklichkeit ist so ganz anders, als man es sein Leben lang denkt.
    Das Sterben war einfach, aber das Gehen fiel mir schwer, weil ich sah, wie sehr es meine Kinder traurig machte. Es war ein vernichtender Schmerz, nein, schlimmer noch: Als würde man Bleigewichte an einen bunten Ballon hängen, der sich nichts sehnlicher wünscht, als aufzusteigen und davonzufliegen, sich in das Paradies tragen zu lassen, von dem man weiß, daß es einen erwartet.
    Nachdem Bernhard seinen Schwestern erzählt hatte, daß ich nicht mehr gesund werden würde, konnte er sie davon überzeugen, daß es für mich am besten wäre, wenn der Beatmungsapparat abgeschaltet würde. Oh, war das eine Befreiung für mich. Beatmet zu werden ist wirklich schrecklich. Du willst hinübergleiten in das selige Land der Entspannung, aber etwas, eine Maschine, hält dich mit aller Kraft zurück.
    Dann brachten sie mich und meine Kinder in ein leeres Zimmer, damit wir ungestört sein konnten. Ich freute mich so. Ich wollte sie gerne noch einmal alle um mich haben, damit ich in Frieden gehen konnte, aber so kam es nicht. Ludwig, mein ältester Sohn, war lange Zeit unauffindbar. Er hatte sich abgemeldet, um zu reisen, und niemand konnte ihn erreichen.
    Und meine Töchter weinten immer nur. Der dichte Schleier der Trauer machte sie blind und taub; ich konnte nicht zu ihnen durchdringen. Bald legte er sich auch über mich, band mich, hielt mich fest. Er machte mich schwer und träge.
    Zehn Tage lang versuchte ich, ihnen beizubringen, daß es so am besten war. Ich hatte meine Aufgabe erledigt, und ich war so müde von der Anstrengung des Lebens. Ich versuchte, es ihnen zu sagen, ich versuchte, sie es spüren zu lassen, aber sie hörten mich nicht. Ihre Betrübtheit war so laut, daß die zarte Stimme der Befreiung in ihren Seelen verhallte.
    Am vierundzwanzigsten September wurde die kleine Hannah vier Jahre alt. Edvard und Bernhard schenkten ihr eine Katze. Es war ein Geschenk an Hannah, ein Versprechen, das sie eingelöst hatten, aber es war ein Trost auch für sie: neues Leben, junges, frisches Leben in ihrer Wohnung, die ihnen plötzlich so leer vorkam. Hannah taufte das kleine Ding Lucy, Lucy wie die Leuchtende. Sie half auch ihr über die Trauer hinweg.
    Meine Kinder wechselten sich ab. Bernhard mußte ja vormittags zur Schule, auch Edvard ging den halben Tag ins Geschäft, aber es war immer jemand da, rund um die Uhr.
    Malvyn war der einzige, der verstand. Er setzte sich zu mir und erzählte mir lustige Geschichten von Hannah und von dem, was draußen in der Welt passierte. Für ihn war der Tod nur eine weitere Station in meinem Leben. Er versuchte, es den anderen beizubringen, aber sie hörten nicht auf ihn. Er sei zu jung, um sie zu verstehen.
    Rund um die Uhr saßen sie an meinem Bett. Kein Arzt konnte sagen, wie lange ich überleben würde, ohne die Maschinen. Ich hätte es ihnen sagen können, aber sie hörten nicht zu. „Bis ihr in Frieden seid“, hätte ich gesagt, „bis ihr mich gehen lassen könnt. Ich werde atmen, bis ihr versteht, daß ihr mich nicht wirklich verliert.“ Aber sie nahmen nur ihrer Trauer wahr.
    Zehn Tage lang versuchte ich, zu ihnen vorzudringen. Vergeblich. Und so ging ich am siebenundzwanzigsten September, morgens um drei Minuten vor vier. Edvard war am Fußende meines Bettes eingeschlafen, Bernhard hinausgegangen, um sich die Füße zu vertreten. Die anderen schliefen in der Wohnung von den Buben.
    Um drei Minuten vor vier bin ich gegangen, ohne es anzukündigen. Ich habe mich davongeschlichen, weil sie mich sonst gehalten hätten. Es war an der Zeit. Ich war überfällig. Ich mußte es so tun. Für meine Kinder war es so das Beste.
    Und jetzt stehen sie dort an meinem Grab und erinnern sich. Die letzten Wochen und Monate mit mir gehen ihnen durch den Kopf, unsere Gespräche, unsere Unternehmungen, unsere Spiele. Jeder denkt an seinen Teil unserer gemeinsamen Geschichte, an das bißchen Zeit, das wir während unseres kurzen Aufenthalts auf der Erde gemeinsam verbringen
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