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Eine Versammlung von Krähen (German Edition)

Eine Versammlung von Krähen (German Edition)

Titel: Eine Versammlung von Krähen (German Edition)
Autoren: Brian Keene
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Frau Diane. Vor mittlerweile zehn Jahren war sie gestorben – nicht an Krebs, einem Herzinfarkt, Diabetes oder einer anderen typischen Alterskrankheit, sondern wegen eines betrunkenen Autofahrers. Sie hatten gemeinsam eine Busreise nach Washington D. C. unternommen, um sich zu ihrem 50. Hochzeitstag die Kirschblüte anzusehen. Auf dem Rückweg war ein Besoffener mit seinem Wagen auf ihre Spur ausgeschert. Der Busfahrer war von der Straße abgekommen und gegen einen Baum geprallt. Einige Leute wurden verletzt, die meisten kamen mit harmlosen Kratzern davon.
    Nicht so Diane. Sie wurde mit gewaltiger Wucht nach vorne geschleudert und schlug sich den Kopf am Sitz vor ihr an – so heftig, dass der Schädel von der Wirbelsäule abgetrennt wurde. Der Arzt hatte es als innere Enthauptung bezeichnet. Axel hatte es Rücksichtslosigkeit genannt, denn obwohl er Diane jeden Tag vermisste und wegen ihres Verlusts verzweifelt gewesen war, gab es Zeiten, da wurde er wütend auf sie, weil sie sich einfach davongestohlen und ihn allein zurückgelassen hatte.
    Ohne fremde Hilfe zurechtzukommen, musste er erst mühsam lernen, und er kam immer noch nicht ganz damit klar. Obwohl er inzwischen ein Jahrzehnt lang Zeit gehabt hatte, sich an den neuen Zustand zu gewöhnen, ertappte er sich bisweilen dabei, dass er den Mund öffnete, um ihr etwas erzählen zu wollen – von einem Artikel in der Zeitung oder Klatsch, den er unten in Barrys Lebensmittelladen aufgeschnappt hatte. Manchmal rollte er sich nachts herum, ertastete die leere Matratzenhälfte und fragte sich, wohin sie verschwunden war.
    Dennoch gab er nicht auf. Übte sich als Überlebender. Was sollte er auch sonst tun?
    Abends auf der Veranda zu sitzen, eine Flasche Bier oder Cider zu trinken – nie mehr als eine, sonst musste er am nächsten Morgen dafür bezahlen, indem er eine Stunde lang auf der Toilette festhing – und den Frühlingspfeifern zu lauschen, bescherte ihm Trost und inneren Frieden. Oder zumindest kam es dem nahe. Für gewöhnlich ließen sich die kleinen Frösche Ende März oder Anfang April zum ersten Mal blicken. Wenige Wochen später war ihr nächtlicher Chor so allgegenwärtig wie der Himmel, der Mond und die Sterne. Millionenfach hallte das leise, einem Zwitschern ähnliche Quaken vom Flussufer und den umliegenden Bergen. Manchmal klang ihr Lied gedämpft, aber es verstummte nie vollständig. Es setzte sich bis zum Herbst fort, wenn es draußen kühler wurde.
    Eine streunende Katze huschte über den Rasen. Axel lockte sie mit einem Schnalzen, aber das misstrauische Viech lief ungerührt weiter. Er hatte darüber nachgedacht, sich einen Hund oder eine Katze zuzulegen, um etwas gegen seine Einsamkeit zu tun. Letztlich entschied er sich jedoch dagegen. Wer hätte sich um das Tier kümmern sollen, wenn er verstarb?
    Der Stuhl knackte, als Axel sich zurücklehnte und räkelte. Er setzte die Flasche an die Lippen, trank einen weiteren Schluck, schloss die Augen und ließ das Geräusch der Frühlingspfeifer über sich hinwegschwappen. Diane hatte ihnen immer gern gelauscht. Anders als bei den meisten Dingen, die sie miteinander geteilt hatten, wurde er nicht traurig, wenn er den Fröschen zuhörte. Ihre Klänge schienen seiner Seele Auftrieb zu geben. Ihnen zu lauschen, vermittelte ihm das Gefühl, Diane nah zu sein.
    »Du fehlst mir, Schatz. Ich wünschte, du wärst heute Nacht hier.«
    Auf der gegenüberliegenden Straßenseite saß Bobby Sullivan im Garten vor dem Haus auf einem Erdhaufen und spielte mit seinen Matchbox-Autos. Ein Träger aus Plastik – einer von den kleinen, die wie Koffer aussahen – stand geöffnet vor ihm, und weitere Autos übersäten den Boden um die Füße des Sechsjährigen. Er machte Brummgeräusche und veranstaltete eine kleine Wettfahrt. Seine Mutter Jean rief durch das Fliegengitter nach ihm und verkündete, dass es Zeit wurde, reinzukommen.
    Lächelnd beobachtete Axel, wie der Junge bewusst trödelte, die Autos langsam verstaute und versuchte, so viel Zeit wie möglich zu schinden, bevor seine Mutter erneut nach ihm rief. Was nicht lange auf sich warten ließ, und diesmal klang ihre Stimme eindringlicher. Mit missmutig herabhängenden Schultern schlurfte Bobby auf das Haus zu. Er hielt inne, um Axel zuzuwinken. Weiterhin mit einem Lächeln im Gesicht winkte Axel zurück.
    Bobby ging hinein. Die Insektenschutztür fiel mit einem Knall hinter ihm zu. Die Verandabeleuchtung der Sullivans flackerte auf. Das Küchenlicht schimmerte
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