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Eine unberührte Welt

Eine unberührte Welt

Titel: Eine unberührte Welt
Autoren: Andreas Eschbach
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Versteck. Vielleicht hatte er sich das sowieso nur eingebildet. Überreizte Nerven und so.
    Minuten vergingen.
    Dann hörte Wim plötzlich jemanden singen.
    Eine Frau. Trällerte vor sich hin, schien auf und ab zu gehen dabei.
    Er konnte nicht anders, er musste hinaus aus seinem Versteck und sich vergewissern, dass das keine Halluzination war. Es war unmöglich. Woher sollte plötzlich eine Frau kommen? Und wie, vor allem? Er hatte die einzige Zugangstür keine Sekunde aus den Augen gelassen.
    Es war keine Halluzination. Es war die Unbekannte. Sie erschrak fast zu Tode, als Wim in der Tür des Schlafzimmers auftauchte.
    Hinter ihr fehlte eine Paneele in der Rückwand, jener Wand, die laut offiziellem Bauplan des Schiffes unmittelbar an die Außenwandung grenzte. Und hinter dieser Öffnung war ein matt beleuchteter, schmaler Gang zu sehen, der in die Unendlichkeit zu führen schien.
     
    Sie weigerte sich, seine Fragen zu beantworten. Sie schrie herum, rief nach dem Stellvertretenden, versuchte durch den Gang zu flüchten, aber sie war nur eine junge Frau, und Wim war ein im Nahkampf erfahrener Mann. Er hätte lieber eine beeindruckende Waffe in der Hand gehabt, als sie zu packen und ihr den Arm schraubstockartig auf den Rücken zu drehen, bis sie wimmerte vor Schmerz, aber es gab keine Waffen an Bord außer den Elektroschockstäben, die den Ordnungskräften vorbehalten waren. Also tat er es und schob sie vor sich her, durch diesen absolut irrealen Gang, den es eigentlich überhaupt nicht geben durfte.
    Es war ein schmaler, unbequemer Schacht aus geriffelten Metallelementen, auf denen man nur mühsam vorankam. Wim erkannte das Geräusch wieder, das er gehört hatte: Er machte es jetzt selber. Eine leichte Biegung nach rechts gab es, und schließlich, mindestens hundert Meter weiter, kamen sie an eine schwere Stahltür mit Panzerverriegelung, die offenstand und außen in großen Lettern die Bezeichnung FDE-102 trug.
    »Die Nummer unseres Schiffes?!«, fiel es Wim wieder ein. Vergessen Sie nicht, auf allen Dokumenten die Nummer Ihres Fluges anzugeben, hatte es in den Bewerbungsunterlagen immer geheißen. »Was hat das zu bedeuten?«
    »Na was wohl?«, meinte die Frau verächtlich.
    Auf der anderen Seite der Stahltür erstreckte sich ein breiter Gang, in dem eine gelbliche Notbeleuchtung glomm. Ihre Schritte hallten. Neben der Tür lehnte ein Fahrrad an der Wand. Endlos, alles. Alle hundert Meter ein weiteres Stahlschott, rechts und links jeweils, die Nummern fortlaufend – FDE-103, FDE-104 …
    »Was ist das? Wo sind wir hier?«, schrie Wim die Frau an, doch sie verzog nur das Gesicht.
    Da kamen plötzlich Lichter von beiden Seiten, Fahrzeuge, Männer darauf, die sie umstellten, Waffen auf sie richteten. Einer trat auf die Frau zu, streckte die Hand aus und sagte: »Schluss mit diesen Ausflügen, Miss Vane. Geben Sie mir den gestohlenen Schlüssel.«
    Sie händigte ihm eine schmale Karte aus, mit der er zu der offenstehenden Tür ging, sie zuzog und verriegelte. »Was soll das?«, protestierte Wim, worauf der Mann ihn ansah und sagte: »Sie werden nicht mehr zurückkehren, tut mir leid. Ihre Reise ist zu Ende.«
    Sie packten sie beide auf ihre klobigen, unkomfortablen Fahrzeuge. Es ging kreuz und quer durch diesen und ähnliche Gänge, bis ein breites Stahltor vor ihnen auffuhr und sie in eine Helligkeit gelangten, die Wim die Tränen in die Augen trieb. Es dauerte eine Weile, bis er etwas sah, und als er dann etwas sah, war ihm, als müsse sein Herz stehenbleiben.
    Sie waren auf der Oberfläche eines Planeten.
    Sanfte Wiesen und Wälder. Wolken am blauen Himmel, der Vollmond dahinter.
    Nicht irgendein Planet. Die Erde.
     
    »Sie werden einsehen, dass wir Sie unmöglich zurückkehren lassen dürfen«, sagte der grauhaarige Mann, der Wim in einem bequemen Ledersessel gegenübersaß und eine schlanke Zigarre rauchte. Hinter ihm ging der Blick weit hinaus über ein bewaldetes Tal, herbstlich gefärbtes Laub und in der Ferne kreisende Raubvögel. Wim konnte sich kaum auf den Mann konzentrieren, so schmerzhaft schön war es, das alles zu sehen.
    »Wie bin ich hierhergekommen?«, fragte er flüsternd. »Ich war in einem Raumschiff. Millionen von Kilometern entfernt von hier. Wie kommt es, dass ich hier sitze?«
    »Sagen Sie bloß nicht, dass Sie sich nicht längst alles zusammengereimt haben. So schwer ist das doch nicht. Sie waren in einem Raumschiff, ja, aber es war nicht Millionen Kilometer entfernt im Weltraum, sondern
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