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Eine unbegabte Frau

Eine unbegabte Frau

Titel: Eine unbegabte Frau
Autoren: Alan Burgess
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können hier arbeiten. Wir brauchen solche geschulten Leute wie Sie.« Sie zwang sich, unbewegt geradeaus zu sehen, jede Bewegung ihrer Glieder unter Kontrolle zu halten, um unbefangen zu erscheinen. Auf keinen Fall durfte er die plötzliche, steigende Angst merken, die seine Worte in ihr hervorriefen. »Aber ich bin gar nicht geschult! Ich will doch nur Missionarin werden!« Und dann fügte sie mit der ihr eigenen Offenheit, die sie nicht ablegen konnte, hinzu: »Und ich fühle mich auch nicht wohl in Rußland; all diese Armut, die gedrückten, unterernährten Menschen, der Schmutz...«
    Seine dunklen Augen wandten sich ihr zu. »Aber wie wollen Sie nach China kommen? Sie haben kein Geld, um die Fahrkarten zu bezahlen.«
    »Ich habe meine Fahrkarte bis nach Tientsin bezahlt«, entgegnete Gladys wütend. »Wenn Ihre Beamten ehrlich wären, würden sie dafür sorgen, daß ich hinkomme.«
    »Aber was haben Sie davon, wenn Sie weiterfahren? Sie können doch ebensogut hier arbeiten. Leute wie Sie, die mit Maschinen umzugehen verstehen, haben es gut bei uns.«
    »Maschinen! Nie im Leben habe ich etwas mit Maschinen zu tun gehabt!«
    »Bleiben Sie doch hier«, sagte er. »China ist noch so weit. Wir werden uns darum kümmern, daß es Ihnen an nichts fehlt.«
    Gladys sah kaum, was um sie her vorging, als er sie an diesem Vormittag durch die Straßen Wladiwostoks führte. Seit dem Beginn ihrer Reise war sie noch nie so verzweifelt gewesen. Es war klar, daß dieser Mann Instruktionen empfangen hatte, sie zurückzuhalten. Warum nur? Es gab Millionen Menschen in Rußland. Was wollten sie von ihr?
    Zum Intourist-Hotel zurückgekehrt, begab sich der NKWD-Mann wieder hinter sein Pult, und Gladys war froh, daß sie allein die Hotelhalle durchqueren konnte. In diesem Augenblick hatte sie das Gefühl, als ob jemand dicht hinter ihr ginge. Vorsichtig blickte sie über die Schulter zurück. Ein Mädchen folgte ihr, dunkel, einfach gekleidet, aber sympathisch. Jetzt trat das Mädchen neben sie. Ohne den Kopf zu drehen, flüsterte sie in gutem, wenn auch stark akzentuiertem Englisch: »Ich muß Sie sofort sprechen. Es ist wichtig. Folgen Sie mir.«
    Wie unter einem Zwang ließ Gladys die Unbekannte vorangehen und folgte ihr in den Gang vor den Zimmern. Das Mädchen ergriff ihren Arm und zog sie in eine dunkle Ecke. »Ich habe gewartet, bis ich Sie ungestört sprechen konnte«, sagte sie.
    »Aber ich verstehe nicht. Wer sind Sie?«
    »Das ist jetzt nicht wichtig. Wichtig ist, daß Sie in Gefahr sind!«
    Die unbestimmte Angst, die Gladys seit diesem Morgen erfüllte, schlug wie eine Flut über ihr zusammen. »Aber was kann ich tun?« fragte sie mit belegter Stimme.
    »Sie wollen doch fort, nicht wahr?« Die Worte überstürzten sich in drängender Hilfsbereitschaft. »Wenn Sie jetzt nicht hinauskommen, gelingt es nie mehr.«
    Gladys’ Lippen preßten sich fester aufeinander. Wieder überlief sie eine Welle von Angst.
    »Ich bin Engländerin. Ich habe meinen Paß.«
    »Wo ist er?«
    »Hier in meiner Handtasche.«
    »Zeigen Sie ihn mir.«
    Gladys kramte in ihrer Tasche. Dann plötzlich erinnerte sie sich. Der Mann hinter dem Pult! Er hatte ihn eingesteckt und behalten.
    Das Mädchen sah sie fest an. Sie las ihre Gedanken. »Haben Sie den Paß nicht? Sie müssen ihn unbedingt zurückbekommen! Hier werden dringend geschulte Fabrikarbeiter gesucht. Hat der NKWD erst seine Entscheidung gefällt, dann schickt man Sie irgendwohin in das Innere Rußlands, und niemand hört mehr etwas von Ihnen. Sehen Sie sich Ihren Paß genau an, wenn Sie ihn zurückerhalten!«
    In Gladys’ Stimme zitterte das Entsetzen. »Aber was soll ich tun?«
    »Ich kann Ihnen helfen.«
    »Mir helfen? Wie können Sie mir helfen?«
    »Hören Sie zu. Heute, gleich nach Mitternacht, ziehen Sie sich fertig an und halten Ihr Gepäck bereit. Es wird jemand an Ihre Tür klopfen. Machen Sie auf und folgen Sie dem Mann, der draußen steht. Sprechen Sie nicht mit ihm. Folgen Sie ihm einfach. Haben Sie verstanden? Und verlangen Sie Ihren Paß zurück!«
    Gladys nickte matt mit dem Kopf. Sie brachte kein Wort heraus. Wie benommen blieb sie, nachdem das Mädchen gegangen war, in dem dämmerigen Gang stehen und versuchte einen Plan zu machen. Vor allen Dingen mußte sie ihren Paß wieder haben, unbedingt. Ohne Papiere gab es keinen Ausweg. Sie ging hinunter in die Halle zum Pult des NKWD-Mannes. Er wippte spielerisch auf seinem Stuhl, rauchte dabei eine Zigarette und sah unverschämt zu
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