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Eine unbegabte Frau

Eine unbegabte Frau

Titel: Eine unbegabte Frau
Autoren: Alan Burgess
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der Amerikaner. Er kehrte kurz darauf zu seiner Frau nach Schanghai zurück, die dort eine Stiftung zur Rückführung deutscher Waisen und Missionare in ihre Heimat verwaltete. Viele von ihnen, gute, tapfere Leute, waren dem Hungertode nahe gewesen, doch sie waren alle auf den Weg nach Hause gebracht, und von dem Fonds waren noch einige hundert Dollar übrig. Nun war ihm klar, wie die Restsumme gut zu verwenden war, und er sagte sehr ernst zu seiner Frau: »Hör zu, Liebe, ich weiß, wem du mit deinen Dollars helfen könntest.«
    »Nun?« fragte sie.
    »Weder einer Waise noch einem Deutschen, sondern einer kleinen Frau, einem mageren Vögelchen mit Namen Gladys Aylward. Ich fände es eine glänzende Idee, diesem Menschenkind mit dem Geld einen Heimaturlaub zu verschaffen. Es geht ihr gesundheitlich gar nicht gut, das weiß ich von ihren Freunden. Jetzt laß dir erst einmal ein bißchen von ihr erzählen...«
    Gladys selbst erfuhr von dieser großzügigen amerikanischen Gabe durch einen chinesischen Aldermann; der lustige, freundliche Alte kam herauf in das Bergdorf, in dem sie wohnte. Er schlenderte die Dorfstraße entlang, und als er sie vor der Tür der Mission stehen sah, winkte er ihr mit einem Brief zu und rief: »Ich soll Sie suchen. Sie dürfen zurück nach England.«
    Sein Gesicht verzog sich zu einem breiten Grinsen. »Sie brauchen bloß noch nach Schanghai zu fahren, und dann wird Ihr Fahrgeld bis nach England bezahlt, und dann gehen Sie heim. Ja, warum weinen Sie denn, Frau? Freut Sie denn die Nachricht gar nicht?«

Nachschrift

    Ganz so schnell ging es natürlich nicht. Noch drei Jahre körperlicher Leiden, drei Jahre Arbeit, Unschlüssigkeit und Heimweh vergingen, ehe Gladys Aylward endlich auf dem Wege nach England war.
    Es fiel ihr nicht leicht, von China fortzugehen; alles, was sie liebte, war in China. England war fremd und fern. Und obgleich ihre fünf vor dem Gesetz adoptierten Kinder jetzt junge Männer und Frauen waren, die ihren eigenen Weg gingen, konnte sie sich doch nur schwer zu der Fahrt entschließen. Alle die Kinder, die sie von Yang Cheng durch die Berge geführt hatte, betrachteten sie noch immer als ihre Mutter — sie tun es heute noch — , sie holten sich immer wieder bei ihr Rat und Hilfe und besuchten sie, ganz gleich in welchem Teil Chinas sie gerade lebte. Als sie bei den Stockwells wohnte, gab es oft eine ganze Prozession junger Menschen, die zu ihrer »Mutter Ai-weh-deh« wollten. Erst nach langem Schwanken und Überlegen kam sie zur Überzeugung, daß Gott es bestimmt hatte: sie sollte zurück nach England. Und darum wollte sie nun auch gehen.
    Als ich die erste Notiz über Gladys Aylwards Rückkunft las — einige wenige Zeilen, die nichts weiter besagten, als daß sie zwanzig Jahre Missionarin in China gewesen war —, veröffentlichte ich gerade eine Serie wahrer Geschichten in dramatisierter Form, die BBC unter dem Titel »Die Unbesiegten« als Hörspielreihe sendete. In der Erwartung, daß Fräulein Gladys Aylward mir etwas zum Thema Passendes erzählen könnte, besuchte ich sie in ihrem Heim in Edmonton. Ich brachte mein Anliegen vor, aber Gladys schüttelte sehr ernsthaft den Kopf und meinte, daß ihr ganz gewiß nichts widerfahren sei, was man für ein Hörspiel verwenden könnte.
    »Aber sicherlich haben Sie doch«, wandte ich ein, »in diesen zwanzig Jahren China vieles Interessante gesehen und erlebt?«
    »Oh, das schon«, erwiderte Gladys, »aber es wird die Leute kaum interessieren. Etwas Aufregendes ist eigentlich nicht passiert.«
    Mindestens eine Viertelstunde verging, bis sie wenigstens zugab, einmal »einige Kinder über die Berge mitgenommen zu haben«.
    Ich bohrte weiter. Die lakonischen Antworten Gladys’ werde ich nie vergessen:
    »Über die Berge? Wo war denn das?«
    »In Schansi in Nordchina; wir gingen von Yang Cheng über die Berge nach Sian.«
    »So? Und wie lange brauchten Sie dazu?«
    »Oh, einen Monat ungefähr.«
    »Hatten Sie genug Geld bei sich?«
    »O nein, Geld hatten wir überhaupt nicht.«
    »So? Wovon lebten Sie denn? Wie bekamen Sie etwas zu essen?«
    »Der Mandarin gab uns zwei Körbe voll Hirse mit, aber die hatten wir bald aufgegessen.«
    »So. Wie viele Kinder waren es denn?«
    »Beinahe hundert.«
    Ich merkte, daß ich ziemlich oft und töricht »So« sagte. Es war auch alles sehr unklar — klar war nur das eine: daß ich hier fast zufällig in die weitaus packendste Geschichte hineingestolpert war, die mir je begegnet
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