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Eine unbegabte Frau

Eine unbegabte Frau

Titel: Eine unbegabte Frau
Autoren: Alan Burgess
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aufgebaut, damit sie nicht herunterrollten. Gladys kommandierte je zwei ältere Kinder für jeden Waggon ab; sie sollten auf die Kleinen achtgeben, wenn sie aus dem Schlaf erwachten.
    Dann kletterte Gladys selbst hinein. Erst riß sie sich noch das Knie an einem eisernen Haken blutig, dann aber fühlte sie die krümelige Oberfläche der Kohle unter ihren Händen. Sechs Kleine waren auf ihrem Wagen verstaut; sie schienen alle ziemlich sicher zu liegen. Einer der Männer rief von unten herauf, er werde jetzt dem Lokführer sagen, daß alle verfrachtet seien. Gleich darauf schlugen die Puffer rasselnd aneinander, und der Zug fuhr mit Rütteln und Schütteln an.
    »Lebt wohl, Frau! Gute Reise!« rief der zweite Mann aus der Dunkelheit des Bahnsteigs herauf. »Leb wohl, Freund!« rief sie zurück. »Dank für eure Hilfe! Und Gott segne euch!«
    Der Zug fuhr mm schneller, der Wind strich ihr kühl über das Gesicht — nicht so kalt wie in den Bergen, sondern wohltuend und milde. Die Sterne glitten vorbei, eine langsam sich drehende Lichterlandschaft. Gladys streckte sich aus, den Kopf auf einem Kohlenbrocken. Der Schmutz störte sie nicht, aber wer hätte gedacht, daß diese schwarzen Haufen, die vor Millionen Jahren im Schoß der Erde wuchsen, heute eine so gute, wenn auch harte Lagerstatt abgeben würden! Welches Jahr hatten wir? 1940? April 1940, und sie ratterte auf einem alten Kohlenwagen durch China. Sie ahnte nichts vom Durchbruch der Deutschen in Frankreich, nichts davon, daß ihre Landsleute rückwärts getrieben wurden zur Niederlage und zum Ruhm von Dünkirchen. Sie wußte nicht, daß in diesem Augenblick Schiffe auf allen Ozeanen versenkt und von Minen zersplittert wurden. Von den heulenden Sirenen wußte sie nichts, die den Menschen hinter den verdunkelten Fenstern der Londoner Häuser den Herzschlag stocken ließen. Sie hatte keine Vorstellung davon, wie in Amerika und in der ganzen Welt, soweit sie nicht von Diktatoren beherrscht war, der Ruf nach Freiheit die Menschen einte. Alle positiven Kräfte sammelten sich aus dem inneren Zwang heraus, den schon die alten Mandschuweisen lange vor Christus erkannt hatten: »Die Veranlagung des Menschen ist gut — das Gute wohnt ihm so natürlich inne wie dem Wasser das Verlangen, abwärts zu fließen.«
    Nichts von alledem war Gladys bewußt — nur das Gefühl der Zufriedenheit erfüllte sie, daß sie hier auf den Kohlen unter den wandernden Sternen liegen durfte und der Zug unter ihr dem fernen Ziel Sian entgegenrumpelte. Und schon war sie eingeschlafen.
    Als Gladys erwachte, dämmerte es. Die Kinder waren längst munter, und sie hörte ihre begeisterten Zurufe aus allen Wagen den ganzen Zug entlang. Der kleine San, der ganz in ihrer Nähe geschlafen hatte, guckte Lufu an, der sich eben die Augen rieb, und rief lachend: »Lufu, du bist ja über Nacht ganz schwarz geworden!« Und Lufu schrie vergnügt und in den höchsten Tönen zurück: »Und du bist noch viel schwärzer! Und Ai-weh-deh ist in der Nacht auch schwarz geworden! Ist das lustig!« Aus jedem Wagen ertönte das gleiche übermütige Gelächter, und Gladys lachte mit.
    Die Japaner hatten diesmal den Zug nicht beschossen, oder wenn sie doch geschossen hatten, so war Gladys jedenfalls nicht davon aufgewacht. Sie fühlte sich für den Augenblick erfrischt, konnte sich aber über die lähmende Schwäche, die sie immer mehr ergriff, nicht hinwegtäuschen. Der gelbe Staub Honans lag nun schon hinter ihnen, und sie fuhren durch eine sanft gewellte Landschaft mit Obstgärten, die in voller Blüte standen. Ab und zu tauchte ein geschwungenes Pagodendach hinter mächtigen grünen Bäumen auf; die Kinder jubelten und begrüßten jeden neuen freundlichen Anblick. Ein solches Land hatten sie noch nie im Leben gesehen.
    Am frühen Nachmittag kamen sie nach Huasan, wo sie ihren Zug verließen. Huasan war eines der großen Heiligtümer Chinas — der Tempel mit dem Schrein war bombardiert, aber der reichgeschmückte alte Bau war noch immer so schön, daß Gladys bezaubert stehenblieb, während ihre schwatzende und auf Neues begierige Schar langsam weiterzog. Auch am Berghang lagen viele kleinere Tempel und Pagoden, ihre Dächer zeichneten sich mit ihrer geschweiften Linie heiter gegen die Bäume ab. Plätschernde Flüßchen mit malerischen kleinen Brücken wanden sich durch das Land; Pilger trugen gelbe Räucherkerzen und Wachsstöckchen in hellem Rot, die vor den heiligen Stätten verbrannt werden sollten. Sanfttönende
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