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Eine unbegabte Frau

Eine unbegabte Frau

Titel: Eine unbegabte Frau
Autoren: Alan Burgess
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sie war, und ausruhen. Aber das war unmöglich; sie wußte es, denn ihre einzige Hoffnung war Frau Tschiang Kai-scheks Flüchtlingsheim in Sian. Die Stadt war noch immer viele Tagereisen entfernt, aber Gladys mußte unbedingt soviel Kraft aufbringen, um noch bis dorthin zu gelangen. Aber diese Berge! Diese hohen, grausamen Zacken! Jetzt ging die Sonne hinter ihnen unter, und jedes Tal und jeder Gipfel war in ihr purpurnes Glühen getaucht. Zu jeder anderen Zeit hätte sie den herrlichen Anblick genossen — aber heute hatte sie nur eine Empfindung: die Welt ertrinke in Blut.
    Zuerst führte der Pfad aufwärts. Sie waren nun fast alle barfuß, und die scharfen Steine zerschnitten ihnen die Fußsohlen. Wenn sie von den ersten Höhen zurückblickten, sahen sie den Staub über der Ebene hängen, und der rote Sonnenball starrte wie ein Dämonenauge durch diese trüben Schleier. Vier Stunden lang arbeiteten sie sich aufwärts, die jungen Burschen voraus, die älteren Mädchen langsam folgend. Von einer hohen Bergschulter aus sahen sie zum letztenmal die Ebene, dann senkte sich der gewundene Weg, und die Gipfel schlossen das wandernde Häuflein Menschen ein.
    Am späten Nachmittag kamen Liang und Teh, die beiden unentbehrlichen Pfadfinder, zurück und berichteten von einem Dorf, das sie versteckt in einem engen Tal entdeckt hatten. Als Gladys und die Mädchen es erreichten, tranken die Kinder dort schon gierig viele Schüsselchen voll Mentang, das mehlige Wasser, das übrigbleibt, wenn man Hirse kocht, und die Dorfbewohner verteilten Reiskuchen und andere Reste ihrer Mahlzeiten. Gladys trank etwas Tee und fühlte sich sogleich frischer. Die Leute waren freundlich. Sie würde mit den Kindern noch zwei Tage brauchen, um über die Berge hinweg Tangkuan zu erreichen, sagten sie, und unterwegs würden sie noch in einigen anderen Dörfern etwas zu essen bekommen. Zunächst aber erhob sich vor ihnen eine hohe Gipfelkette gen Himmel. Gladys zwang sich, aufzustehen. Sie überlegte, daß sie in dem nächsten Tal übernachten könnten, wenn sie diese Bergkette hinter sich gebracht hätten. Noch eine Stunde Anstieg, und schon hingen wieder die Fünfjährigen an ihrem Mantel, wie immer um diese Zeit. Ein paar vierzehnjährige Jungen erboten sich, sie abwechselnd zu tragen. Auch Gladys nahm eines der müden Kleinen auf den Rücken. Die großen Mädchen konnten nicht mehr helfen; sie waren völlig erschöpft und brauchten ihre ganze Kraft, um nicht zurückzubleiben. Die ganze Gesellschaft kam jetzt nur noch sehr langsam vorwärts. Die Sonne war untergegangen, ehe sie noch die Höhe erreicht hatten, und Gladys erkannte, daß sie nicht vor Einbruch der Nacht hinüberkommen würden. Es gab nur eine Möglichkeit: eine geschützte Stelle zu finden und dort die Nacht zuzubringen. Schnell kroch die Dunkelheit aus den Tälern heran und hüllte sie ein. Eine überhängende Felspartie versprach ein wenig Schutz, und sie drängten sich alle eng zusammen, um sich gegenseitig zu wärmen. Die Kleineren waren so müde, daß sie — kaum waren sie in ihre gesteppten Wattedecken eingewickelt — sofort in Schlaf sanken. Es wurde schnell kalt, Gladys fühlte die Schauer durch ihren ganzen Körper laufen, aber dann nahm der bleierne Schlaf äußerster Erschöpfung sie auf.
    Sobald es hell wurde, packten sie ihre Betten zusammen und machten sich auf den Weg, die Jungen wieder als Vortrupp. Als die Sonne aufging, hatten sie den Höhensattel hinter sich — vor sich unzählbare kahle Gipfel, hintereinander in unendlicher Folge nach allen Richtungen das Blickfeld füllend, einschüchternd und trostlos. Ein flüchtiger Gedanke schnürte ihr für einen Augenblick die Kehle zu: wenn sie je hier den Weg verfehlten, müßten sie in dieser einsamen Öde wandern, bis der Tod sie erlöste. Den ganzen Tag kämpften sie sich in dieser Bergwelt vorwärts. Und dann am Nachmittag, als sie alle auf verstreuten Felsbrocken eine der nun sehr häufigen Rastpausen machten, brach plötzlich Gladys’ Widerstandskraft zusammen. Wie sie da auf ihrem Felsblock zusammengesunken saß, bot sie einen erbarmungswürdigen Anblick. Der Schweiß hatte den Bergstaub in bellen Streifen von ihrem Gesicht gespült, und ihre Augen blickten weit aufgerissen und angsterfüllt auf die Kinder rings im Kreise: die Acht- und Neunjährigen sahen noch halbwegs kräftig aus, aber die Kleineren hockten mit jämmerlichem Gesichtsausdruck um ihre Ai-weh-deh herum, zu matt schon, als daß sie noch viel nach
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