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Eine unbegabte Frau

Eine unbegabte Frau

Titel: Eine unbegabte Frau
Autoren: Alan Burgess
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Essen und Trinken fragten oder danach drängten, getragen zu werden. Die Mädchen hatten sich auf den felsigen Boden geworfen; an der Haltung jeder einzelnen konnte man die tiefe Erschöpfung und Niedergeschlagenheit erkennen, die sie ganz ausfüllten. Selbst Lian und Teh saßen mit stumpfen Gesichtern da, das Kinn in die Hände gestützt, vom stundenlangen Tragen der Kleinsten übermüdet.
    Plötzlich fühlte Gladys etwas Nasses ihre Wange herabfließen. Sie versuchte, die Tränen mit dem Finger wegzutupfen, aber sie kamen nur noch schneller, immer noch dichter und schneller, und bald schluchzte sie laut und überließ sich ihrem Kummer und fand keinen Halt mehr; sie schluchzte, weil sie ihre Tränen nicht aufhalten konnte, schluchzte vor Schwäche und Erschöpfung, schluchzte um alle die Kinder, um China, um die Welt in grenzenlosem Schmerz. Sie fand weder den Mut noch die Fähigkeit, weiterzugehen, sie war überzeugt, daß es mit ihnen allen zu Ende war, daß sie hier in diesen Bergen den Tod finden würden. Sie hatte alle diese Menschenleben auf dem Gewissen, sie hatte versagt — und sie weinte über ihre große Schuld. Die Kinder schluchzten mit, und die kleinen Jungen, die auf dem Pfad ein Stück vorausgegangen waren, kamen zurück, guckten mit offenen Mündern und begannen dann, angesteckt von dieser Epidemie des Kummers, ebenfalls zu jammern. Eine ganze Weile scholl von den Felsenwänden nichts als das Echo all dieses Jammers zurück. Als es vorbei war, wischte sich Gladys das Gesicht mit dem Jackenärmel und schnüffelte erleichtert auf. Die Tränen hatten ihr Gemüt befreit, hatten die öde Verzweiflung fortgespült, ein wenig auch von der schmerzenden Müdigkeit mitgenommen, die Kraft und Willen lähmte. Langsam, sehr langsam kehrte etwas von ihrer alten Spannkraft zurück. Sie lächelte matt zu Sualan hinüber, die zu ihr herankroch.
    »Einmal ordentlich ausweinen, das tut gut!« sagte sie tapfer. »So, also, das genügt, hört ihr? Wir wollen jetzt ein schönes Lied singen und während wir das singen, marschieren wir den Weg abwärts bis zu dem großen Felsvorsprung da unten. Kommt, auf mit euch, und nicht mehr geheult! Jetzt wollen wir mal ausprobieren, wer am lautesten singen kann! Eins... zwei... drei...«
    Diese starren Gipfel mochten in ihren langen Jahren zwischen Wind und Regen manches Seltsame schon gesehen haben; ob sie aber je etwas so Ungewöhnliches, Rührendes und Heldenhaftes erlebt hatten wie diesen Zug von Kindern, in dessen Mitte eine kleine Frau mit tränenverschmiertem Gesicht ging und dabei mit heller Stimme und verzweifelter Entschlossenheit ein Kirchenlied anstimmte, während sie ihre Schützlinge anführte, vorwärts, ins Gelobte Land?
    Kurz vor Sonnenuntergang kamen sie zu einem Dorf, und hilfsbereite Menschen durchstöberten ihre Häuser nach Eßbarem für die vielen Kinder. Der Dorfälteste schüttelte den Kopf, wobei sein dünner Ziegenbart, wie es Gladys schien, mißbilligend hin und her pendelte, aber er sagte gleichmütig: »Sie haben viele Mäuler zu stopfen — wer könnte da nein sagen!« Und alle freuten sich auf die kommende Nacht: sie durften in einer leeren Vorratshöhle am Rande des Dorfes schlafen, mit gefülltem Magen und unter festem Dach.
    Der dritte Tag brachte die gleichen Schwierigkeiten wie die vorigen. Unendlich schleppten sich die Stunden dahin, und als es Abend wurde, hatten sie weder ein freundliches Dorf noch etwas zu essen gefunden. Müde und hungrig rollten sie sich zwischen den Felsen zum Schlafen ein. Bald aber ging ein dichter, lang anhaltender Regen nieder. Die Jüngeren schliefen ruhig weiter. Gladys und die Burschen aber gingen umher und sammelten in den Schüsseln soviel Wasser, wie sie auf fangen konnten. Als die durchnäßten kleinen Menschlein dann morgens erwachten, konnte Gladys ihnen wenigstens mit einer Tasse heißen Tee ein wenig innere Wärme geben.
    Der nächste Tag führte sie nun endlich aus den Bergen hinaus in die Ebene. Bis Tungkuan waren es zwar noch viele Kilometer, aber sie erreichten es vor der Dunkelheit. Die Stadt war heftig bombardiert worden, und die meisten Häuser waren zerstört. Aber auch hier gab es eine Flüchtlingsorganisation, die im Hof einer größeren Ruine arbeitete. Zwei Frauen herrschten dort über die dampfenden Töpfe, die von den Kindern schnell mit freudigem Hallo umzingelt wurden. Ein paar — es waren immer dieselben, die ihre Eßschüsseln und Stäbchen verloren — klammerten sich an Gladys und
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