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Eine unbegabte Frau

Eine unbegabte Frau

Titel: Eine unbegabte Frau
Autoren: Alan Burgess
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Seele einsam unter den hohen, düsteren Bäumen dahinmarschierte. Sie hörte nichts als das Knirschen ihrer eigenen Schritte. Kalt glitzernde Sterne am schwarzen Himmel ließen die Gipfel der unnahbaren Berge schwach leuchten.
    Vier Stunden später, als Kälte und Erschöpfung sie übermannten, setzte sie sich auf die Schienen und machte sich auf dem Spirituskocher etwas Schneewasser heiß für ihren Kaffee-Extrakt. Dazu aß sie zwei Zwiebäcke. Ihr war elend zumute. Schlafen mußte sie, eine oder zwei Stunden — schlafen... Ein bißchen zusammengescharrten Schnee und ihre Koffer benutzte sie als Windschutz; sie wickelte sich fest in ihre Pelzdecke und legte sich auf den eisigen Boden. Ein fernes Heulen ließ sie aufhorchen, und im Einschlafen dachte sie: Wo kommen denn bloß die Hunde her? So ein lautes Gesindel! Erst Jahre später in China wurde ihr klar, daß sie ein jagendes Wolfsrudel gehört hatte.
    Leicht dämmerte es über den Bergen, als sie aufwachte, steif, aber doch erfrischt. Sie kochte sich wieder Kaffee, aß nochmals einen Zwieback, ergriff ihr Gepäck und schritt entschlossen in den neuen Morgen hinein, immer weiter dem endlosen Schienenstrang folgend. »Das wird ein langer Weg nach China«, sagte sie beklommen zu sich selbst. Spät am Abend, während sie vor Kälte und Müdigkeit fast besinnungslos dahintaumelte, tauchten die Lichter von Tschita auf. Das gab ihr neue Kraft. Sie kämpfte sich vorwärts, erstieg schließlich mühsam den Bahnsteig, ließ ihre Gepäckstücke auf einen Haufen fallen und setzte sich kurzerhand obendrauf. Weiter war offenbar nichts zu machen.
    Niemand kümmerte sich während der Nacht um sie, und so schlief sie ein wenig unter ihrer Pelzdecke. Am nächsten Morgen kamen einige Bahnbeamte zu ihr, beredeten sich untereinander, nickten und gingen wieder.
    Was sie sagten, blieb ihr unverständlich. In der eisigen Kälte harrte sie auf ihrem Freiluftlager aus. Gelegentlich schlief sie wieder kurz ein, spürte aber deutlich, wie sie langsam immer kälter und steifer wurde. Es war doch unmöglich, daß sie hier auf einem russischen Bahnsteig erfrieren sollte, nachdem sie eben die Schrecken der sibirischen Wälder überwunden hatte! Der Vormittag war fast vergangen. Sie durfte den Dingen nicht weiter ihren Lauf lassen. Wie konnte sie erreichen, daß sich irgend jemand um sie kümmerte? Lärm schlagen, einen Skandal inszenieren, das war das Richtige.
    Sie hielt Ausschau. Da — ein Beamter mit roter Mütze kam den Bahnsteig entlang gerade auf sie zu. Sollte sie ihm irgend etwas ins Gesicht schreien oder ihm seine imposante Kopfbedeckung herunterreißen? Aber das schien ihr auch nicht sehr erfolgversprechend. Außerdem begleiteten den Mann drei Soldaten, und sein Ziel war Fräulein Aylward! Kurz, aber höflich machte er ihr begreiflich, daß sie verhaftet sei und mit ihm kommen müsse. Nie wieder im Leben sollte sie so glücklich über ihre Verhaftung sein! Sie nahm ihr Gepäck und folgte ihm in einen Nebenraum des Dienstgebäudes. Hier war es so schmutzig und stank so fürchterlich, daß sie mit einer Übelkeit zu kämpfen hatte. Die Tür war hinter ihr abgeschlossen worden; also hatte sie da zu bleiben. Jetzt sehnte sie sich nach der sibirischen Kälte auf ihren Bahnsteig zurück. Stunden vergingen. Dann wurde die Tür geöffnet, und man führte sie zu einem Beamten der Geheimpolizei. Diesem gelang es nach heftigen Bemühungen, ihr klarzumachen, daß er englisch spreche. Gladys freute sich, daß sie wenigstens dies verstanden hatte, aber weiter kamen sie nicht. Aus allem, was er ihr zu sagen versuchte, konnte sie fast gar nichts entnehmen. Schließlich verließ er sie. Gladys holte ihren Schlafsack heraus — dieses Zimmer roch weniger penetrant — und schlief unter den gleichgültigen Augen des Wachsoldaten sofort ein.
    Am nächsten Tage wurde das Verhör fortgesetzt. Die Beamten prüften ihren Paß und diskutierten lange über die Eintragung: »Beruf: Missionarin«. Sie waren offenbar der Überzeugung, daß dies etwas mit »Maschinistka« also Maschinistin, zu tun habe. Anscheinend wollten sie wissen, ob es ihr in Rußland gefalle; sie solle doch hierbleiben, Leute wie sie würden dringend gebraucht.
    In diesen Jahren strömten, wie man weiß, viele junge Kommunisten aus aller Herren Ländern nach Sowjetrußland, um teilzuhaben am Aufbau des proletarischen Paradieses. Daß man Gladys Aylward zu ihnen rechnete, war nicht erstaunlich — aber dieser Irrtum versetzte sie in
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