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Eine unbegabte Frau

Eine unbegabte Frau

Titel: Eine unbegabte Frau
Autoren: Alan Burgess
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sie ruhig. »Sie ist verrückt im Kopf, die kleine sterbende Frau hier.«

2. Kapitel

    Die »Expedition Gladys Aylward« versammelte sich auf dem Bahnhof Liverpoolstraße in London am Samstag, dem 15. Oktober 1930. Sie muß leider zu den am schlechtesten ausgestatteten Expeditionen gerechnet werden, die je Englands Küsten verlassen haben. An Barmitteln verfügte sie über genau neun Penny in Münzen und zwei Reiseschecks von Cook über je ein englisches Pfund. Die beiden Reiseschecks waren sorgfältig in einen alten Hüfthalter eingenäht, den Mutter Aylward zu dem Unternehmen beigesteuert hatte. Man glaubte in London unerschütterlich daran, daß auch wildeste Ausländer es niemals wagen würden, ein solch intimes und einschüchterndes weibliches Kleidungsstück allzu nahe zu betrachten. So wurde der Hüfthalter zu einer wahren Schatzkammer. Er enthielt außer den Reiseschecks noch Gladys’ Bibel, ihren Füllhalter, die Fahrkarten und den Paß.
    Sie küßte Mutter, Vater und Schwester zum Abschied und setzte sich energisch auf ihren Eckplatz III. Klasse zurück. Die Pfeife ertönte, der Zug fauchte und puffte. Sie winkte aus dem Fenster, bis die Familie ihrem Blick entschwand. Dann trocknete sie sich die Augen, lehnte sich wieder in ihre Ecke und breitete auf dem Sitz neben sich den alten Pelzmantel aus, den ihr eine Freundin geschenkt und den ihr die Mutter auseinandergeschnitten und zu einer Pelzdecke verarbeitet hatte. Ihre beiden Koffer lagen im Netz. Der eine enthielt ihre Kleider, der andere eine seltsame Sammlung von Corned-Beef-, Fisch- und Bohnenbüchsen, Keksen, Zwieback, Fleischwürfeln, Kaffee-Extrakt, Tee und hartgekochten Eiern. Außerdem besaß sie eine Bratpfanne, einen Wasserkessel und einen Spirituskocher. Der Kessel und die Pfanne waren mit einer Schnur fröhlich und unbefangen an einem der Koffergriffe angebunden.
    Die Stadt, die Vororte lagen bald hinter ihr. Noch einmal flog die englische Landschaft an ihr vorbei, aber sie sah sie mit anderen Augen an als sonst: die Kirchen mit ihren viereckigen Türmen inmitten hoher Herbstbäume, die Häuser mit ihrem Fachwerk in Schwarz und Weiß und die braunen Felder, vom Pflug in bogige Arabesken gelegt oder mit Winterweizen eingesät. Sie sah das grasende Vieh auf den blaßgrünen Weiden, die dünnen Fäden blauen Rauchs, die von den Laubfeuern aufstiegen, die schwarzen Krähen, die vor einem mattblauen Himmel über den hohen kahlen Rüstern kreisten. Ob sie je die Heimat wiedersehen würde? Sie konnte nicht ahnen — und sie hätte es auch gar nicht wissen wollen —, daß zwanzig lange Jahre vergehen würden bis zu diesem Wiedersehen.
    In Den Haag stieg sie aus, gab dem Gepäckträger ihre neun Pennies in Kupfermünzen und belegte im Anschlußzug einen Eckplatz. Nach einer nächtlichen Fahrt durch Deutschland und Polen ging es schließlich ratternd hinaus in die weiten Steppen Rußlands. Sie hatte sich in ihre Pelzdecke gewickelt und ließ den Kontinent an sich vorbeiziehen. In Rußland erschreckte sie manches, was sie sah: die Gruppen apathischer Menschen, die auf den kahlen, unfreundlichen Bahnhöfen warteten, von ihren Bündeln umgeben; Frauen, die in Trupps Bauarbeiten verrichteten; Armut und Primitivität in einem Ausmaß, das sie nie geahnt hatte.
    Der Hauptbahnhof von Moskau war voll von Soldaten. Sie trugen ihre Brotration unter dem Arm und brachen sich, wenn sie hungrig waren, ein Stück davon ab. Dem säuberlichen Fräulein Aylward, das soeben ein Ei gekocht und einige Grahamkekse, mit etwas Butter bestrichen, zum Frühstück zu sich genommen hatte, erschienen die rauhen, bündelförmigen, bärtigen Männer, die auf den Boden spuckten und die Nase durch die Finger schneuzten, fremd und einigermaßen schrecklich. Ihrer Mutter schrieb sie, sie könne sich nicht denken, daß dieses Rußland glücklich sei. Ihr kamen die Menschen unterdrückt und elend vor, und der Anblick von Kindern, die auf der Straße arbeiteten, machte sie traurig. Ein- oder zweimal am Tage gönnte sie sich ein wenig Bewegung in den Gängen des Zuges, und gelegentlich, wenn die Maschine anhielt, um Holz zu laden, stieg sie mit den anderen Fahrgästen aus, um die Beine zu strecken und ihren Wasservorrat aufzufüllen.
    Acht Tage, nachdem sie England verlassen hatte, fuhren sie nach Sibirien hinein; die Großartigkeit der Landschaft bezauberte sie: die mächtigen Berge, die dunklen Gürtel hoher Kiefern, die unendlichen Schneeweiten und die überwältigende Einsamkeit. An
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