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Eine unbegabte Frau

Eine unbegabte Frau

Titel: Eine unbegabte Frau
Autoren: Alan Burgess
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Schrecken. Wie konnte sie den Russen ihren Beruf klarmachen? Sie blätterte erregt ihre bebilderte Bibel auf und zeigte ihnen Szenen aus biblischen Zeiten. Das schien Erfolg zu haben, denn nach einigem weiteren Hin und Her übergaben sie ihr ein Papier mit Amtsstempeln, das wie ein neues Visum aussah; außerdem erhielt sie Scheine, die Fahrkarten für die Weiterreise sein mochten.
    Ihr »Dolmetscher»begleitete sie nachmittags an den Zug. Es gelang ihm, ihr zu erklären, daß sie an einem Ort namens Nikolshissur umsteigen und dort den Anschluß nach Pogranilchnai nehmen müsse. Von Pogranilchnai würde es dann nach Charbin weitergehen.
    Schon nach einigen Stunden war sie in Nikolshissur. Der Zug nach Pogranilchnai? Niemand verstand auch nur ein Wort ihrer Frage, keiner der Bahnbeamten, auch nicht der Mann mit der roten Mütze. Es war schon spät geworden; sie ließ sich also wieder auf dem Bahnsteig nieder, um dort eine weitere Nacht zu verbringen. Es war so schneidend kalt, daß sie glaubte, diesmal bestimmt zu erfrieren. Aber der nächste Morgen kam, sie braute sich ihren Kaffee auf dem Spirituskocher, aß zwei der unvermeidlichen Zwiebäcke, gab ihre Siebensachen im Gepäckraum ab und ging auf die Suche nach irgendeinem Amtsgebäude. Dort mußte doch jemand sein, mit dem man reden konnte. Sie fand das Rathaus — aber keinen Menschen, der englisch sprach. Schließlich wies man sie in ein Schreibzimmer, wo ein Beamter ein kleines Verhör mit ihr anzustellen versuchte. Gladys wußte nun schon, daß sie ihre Bibel zu Hilfe nehmen konnte, und sie tat es. Plötzlich aber kam ihr eine neue Idee: sie zog ein Photo ihres Bruders Laurie hervor, das ihn in voller Uniform als Trommler der britischen Armee zeigte. Sah er nicht — für russische Begriffe — wie ein Generalmajor aus? Vielleicht glaubten die Russen, sie habe Verbindung zu hohen Heeresstellen? Sie hat es nie feststellen können. Jedenfalls zeitigte das Photo sofortige, ja elektrisierende Ergebnisse: Sie konnte dem Mann begreiflich machen, was sie eigentlich wollte. Nun sorgte man vor allem dafür, daß sie für die Nacht ein Quartier im Hotel erhielt. Am nächsten Tag brachte ein Beamter sie an den Zug, ihre Fahrkarten wurden geändert, ihre Reiseroute ging nun wieder über Wladiwostok. Die rollenden Räder gaben Gladys ihre Zuversicht zurück, und sie schickte ein kleines Dankeschön an ihren Bruder Laurie.
    Auf dem Bahnhof von Wladiwostok nahm kaum jemand Notiz von ihr. Wohin sollte sie sich wenden? Ihr Blick fiel auf ein einladendes Plakat vom Intourist-Hotel. Es war nicht ganz leicht, den Weg dorthin zu finden; sie sprach Vorübergehende an und versuchte es mit immer neuen Betonungen und Veränderungen der Aussprache, bis sie schließlich doch vor dem Hotel landete, das ganz in der Nähe des Bahnhofs lag. Der Hotelsekretär machte die Eintragungen. Ein blasser, mongolisch aussehender Mann in zerknittertem Anzug und ohne Kragen prüfte ihren Paß und steckte ihn dann in seine Tasche. Er murmelte dabei etwas von NKWD; aber Gladys, der diese Buchstaben nichts bedeuteten, achtete kaum darauf.
    Dieser Mann widmete sich ihr mit einer Freundlichkeit, die Gladys peinlich empfand. Er bestand darauf, ihr die Sehenswürdigkeiten von Wladiwostock zu zeigen; aber was sie da sah, erschreckte sie: der Schmutz in den ungepflasterten Straßen, die Schlaglöcher voller Wasser; die langen Schlangen vor den Läden; die böse quietschenden Straßenbahnen, mit ungewaschenen, in Lumpen gehüllten Fahrgästen vollgestopft; die schäbigen rohen Fassaden ohne jeden Anstrich; die Frauen in kimonoartigen Jacken, mit ihrem Jüngsten auf dem Rücken und mit Augen, die von Hunger und Erschöpfung sprachen.
    Der kalte Wind, der durch die Straßen pfiff, schien ihr die ganze Trostlosigkeit Sibiriens mit sich zu bringen; ja er schien wie ein Gleichnis für ganz Rußland. Sie fühlte bis ins Innerste, wie verdüstert und gelähmt diese Menschen waren. Sie konnte ihr Gefühl nicht in einem kritischen Urteil zusammenfassen, dazu war sie nicht geschult genug — sie sehnte sich nur aufs äußerste, aus diesem Land zu fliehen.
    Am nächsten Morgen erwartete sie der bleiche Geheimpolizist bereits vor der Tür ihres Hotelzimmers. Während sie die Treppen hinuntergingen, fragte sie ihn: »Werde ich bald die Verbindung nach Charbin bekommen?« Er sah sie von der Seite an: »Warum wollen Sie denn in das barbarische China fahren? Hier, bei uns, erwartet Sie eine glänzende Zukunft. Sie sind jung, Sie
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