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Eine Sache der Ehre. Zwei wahre Geschichten.

Eine Sache der Ehre. Zwei wahre Geschichten.

Titel: Eine Sache der Ehre. Zwei wahre Geschichten.
Autoren: Andrea Camilleri
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wollen, mit einer Soldatenschar das Gefängnis verlassen hatte und nicht mehr zurückgekehrt war, auch weil er sich seit einigen Jahren in Borgata häuslich niedergelassen hatte. Ihm wird der Kommandantengrad verliehen, doch weiß ich nicht, wie angenehm ihm das war: Aufgrund seiner Kenntnisse über die Menschen und die Dinge im Torre-Gefängnis erhält er unmittelbar die Aufgabe, ein Inventar der Toten zu erstellen; er soll dabei berücksichtigen, daß einige der Leichen noch unter dem ungelöschten Kalk im Graben liegen, andere jedoch schon zur Crocetta gebracht wurden. Der Oberaufseher macht sich mit größtem Eifer an die Arbeit und ist bereits am elften Februar um acht Uhr in der Lage, Gaetano Attard die vollständige Liste zu diktieren.

    Von diesen hinzugefügten Blättern, deren Nummerierung natürlich erneut bei null beginnt, übertrage ich hier das zur ersten Seite gehörige und setze alles kursiv, was dort mit Feder geschrieben ist. »Im Jahr achtzehnhundert acht undvierzig, am elften des Monats Februar um acht Uhr vormittags ist vor uns Gaetano Attard, stellvertretender Bürgermeister und Standesbeamter der Gemeinde Girgenti, Distrikt Girgenti, Provinz Girgenti erschienen… Alter… Beruf… Reichsbürger wohnhaft… haben wir vom Kommandanten der Justizvollzugsanstalt dieses Ortes Nachricht erhalten, welcher erklärt hat [mit Feder durchgestrichen], daß am Tag [mit Feder durchgestrichen] in der Nacht vom fünfundzwanzigsten auf den sechsundzwanzigsten des Monats Januar im laufenden Jahr ist gestorben im Graben des genannten Torre-Ge-fängnisses: Francesco Lentini, achtundzwanzig Jahre alt, verheiratet mit Serafina La Cagnina, geboren in Castelvitrano, von Beruf Strafsklave, wohnhaft in dieser Strafanstalt, Sohn des verstorbenen Leonardo, von Beruf… wohnhaft in… und der verstorbenen Susanna Sanacore, wohnhaft in… In Befolgung des Gesetzes haben wir uns zusammen mit den genannten Zeugen zur verstorbenen Person begeben und haben ihr tatsächliches Ableben festgestellt. Wir haben darauf die vorliegende Akte verfaßt und in die zwei Register eingetragen und sie den Unterzeichnern vorgetragen, am Tag, Monat und Jahr wie oben von uns angegeben. Nachdem wir die notwendigen Erklärungen über das verstorbene Individuum eingeholt und uns seines tatsächlichen Ablebens versichert haben, haben wir das vorliegende Dokument verfaßt, das in die zwei Register eingetragen worden ist, und das am Tag, Monat und Jahr wie oben und von uns gezeichnet Gaetano Attard.«

    Wie präzise sich Gaetano Attard auch beim gewöhnlichen Schriftverkehr verhält, hier ist er richtig schlampig. Er akzeptiert beispielsweise, daß der Todeszeuge ein einziger ist, und zwar der anonyme »Kommandant der Justizvollzugsanstalt« (der, und das ist bekannt, ein ganz falscher Zeuge ist, da er, wie jedermann weiß, zum Zeitpunkt des Massakers fernab vom Torre-Gefängnis weilte). Außerdem geht er nicht näher auf die Todesursache ein (die er selbst bei den fünf auswärtigen Toten, auch bei denen, die an Bord des Schiffes verstorben sind, benennt, sei es ein Messerstich oder eine Krankheit). Wenn Gaetano Attard am Ende hinzufügt, er habe nur »die notwendigen Erklärungen eingeholt«, ohne sich persönlich vom »tatsächlichen Ableben« vergewissert und ohne mit Federstrichen das Vorgedruckte durchgestrichen zu haben, degradiert er sich selbst vom diensthabenden Standesbeamten zum simplen Abschreiber. Natürlich ist er gezwungen, den Einbanddeckel wieder aufzumachen, um die neuen Blätter einzufügen. Da diese Blätter jedoch eine eigene Numerierung haben, kommt Attard nicht umhin, sie ans Ende des Registers zu hängen. Und da die Blattgröße der hinzugefügten Seiten sehr viel kleiner ist als die der normalen, kommt es, daß die ermordeten Zwangsarbeiter auch im Register nicht nur einen anderen Platz einnehmen als die Toten des Orts, sondern auch deutlich »verschieden« sind.
     Während des langwierigen Kopierens unterlaufen Attard, was unvermeidlich war, einige Fehler. Mir ist bewußt, daß dieser Satz zu Mißverständnissen führen könnte, weshalb ich ihn umgehend verbessern will. Die Fehler Attards wurden nicht dadurch verursacht, wie man annehmen könnte, weil er auf grausige Weise gezwungen war, einhundertvierzehnmal eine knappe Zusammenfassung eines Massakers zu geben, dessen Blut und Tränen noch lange nicht getrocknet waren. (Ich will mir einige Ausschnitte des Wortwechsels zwischen Oberaufseher und Standesbeamten während der
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