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Eine Sache der Ehre. Zwei wahre Geschichten.

Eine Sache der Ehre. Zwei wahre Geschichten.

Titel: Eine Sache der Ehre. Zwei wahre Geschichten.
Autoren: Andrea Camilleri
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»Unweigerlich konstruieren wir uns selbst«, sagte Angelo Baldovino zum Marchese Fabio Colli in Die Wollust der Ehrlichkeit, doch ich habe die mathematische Gewißheit, daß Pirandello eigentlich das Material meinte, das wir Sizilianer vorzugsweise zur Konstruktion verwenden: schwarzpoliertes Ebenholz, eben das der Särge. So geschieht es auch mit einer gewissen Regelmäßigkeit, daß aus Spielerei oder Notwendigkeit ein ganzes Dorf, nicht nur eine Einzelperson, zum »Tragödianten« wird. Ähnlich wie es im Mittelalter bei der Aufführung von Mysterienspielen der Fall war, wo sich die gesamte Dorfbevölkerung unter der Anweisung eines Spielleiters an den Vorbereitungen beteiligte und vorübergehend jedes Amt und jede Rolle aufgab; persönlich habe ich so etwas zumindest bei einer Gelegenheit erlebt, als eine ganze Dorfgemeinschaft – vom Bürgermeister bis zu den Ordnungskräften – einen Mann unterstützte, der einen Auswärtigen entdeckt hatte, der sich anschickte, einen Diebstahl zu begehen. Der Dieb wurde natürlich von allen heimlich bei der glücklichen Durchführung seiner Tat begünstigt. Doch als er dann mit dem Diebesgut mitten auf der Piazza stand, ging ein Chor von Pfiffen und Furzlauten auf ihn nieder. Mir ist auch zu Ohren gekommen, daß sich in der jüngsten Nachkriegszeit eine junge blonde Abgeordnete einer linken Partei in den Kopf gesetzt hatte, eine Wahlveranstaltung in einer Ortschaft abzuhalten, die fest in den Händen der Mafia war, und in der die fortschrittlichsten wiewohl gefährlichsten Ideen bei den Bürgern die liberal-republikanischen waren. Von der Partei, der die Abgeordnete angehörte, fand sich nicht eine einzige Person, nicht mal für bares Geld, ein. Darüber wurde dem Obermafioso Bericht erstattet, der meinte, man dürfe nicht so unhöflich sein und einer schönen Signora das Abhalten einer Wahlversammlung verwehren. Die Abgeordnete traf also am festgesetzten Tag ein. Auf der Piazza erwartete sie ein Meer roter Fähnchen, und die Leute drängten sich wie in einer Sardinenbüchse. Kaum schaffte sie es, auch nur einen Satz zu beenden, schon brach tosender Beifall los, der die Fensterscheiben zum Klirren brachte. Zum Schluß wurde sie im Triumphzug eskortiert.
     Zu lange schon bin ich in der Welt des Spektakels tätig, um nicht zu merken, daß die Geschichte mit der Verhaftung Sarzanas viel zu sehr nach Theater stinkt, nach einer richtig miesen Schmierenkomödie, die irgendwie die Gemüter hätte beruhigen sollen. Warum will Marullo die Sache verharmlosen, schließlich gibt er es doch selbst zu: Tags zuvor wird auf Sarzana geschossen, und am nächsten Tag begnügt man sich, ihn zu beschimpfen? Und die von auswärts nach Borgata herbeigeeilten Freunde und Verwandten der Lebenslänglichen überkommt beim Anblick der verschandelten Leichen ihrer Angehörigen, immer noch laut Marullo, keine Rachgier, sondern sie fügen sich ins Unvermeidliche? Ich glaube vielmehr, daß im Dorf eine große Spannung herrschte und die Gefahr bestand, daß ein zweiter Angriff von größerem Erfolg sein würde. Es wird also erzählt, daß die Verhaftung abends stattfand, genauer gesagt an einem Winterabend, und man darf ruhig annehmen, daß es damals noch keine Straßenbeleuchtung gab. Wenn es aber stimmt, daß nachts alle Katzen grau sind, ist ebenfalls wahr, daß ein Militärmantel und ein tief ins Gesicht gezogener Hut einen Soldaten nicht mehr von einem anderen unterscheidbar machen. Mit dem Märchen von der Verhaftung wollte man also zweierlei erreichen: erstens – wie bereits gesagt – die erhitzten Gemüter zu beruhigen, und zweitens Sarzana und seinen Männern den Auszug aus dem Torre-Gefängnis zu ermöglichen, denn ohne diesen Betrug hätte der Befehlshaber in der Torre Schimmel ansetzen können. Erst als Sarzana in Sicherheit war, wird einer der Dorfköpfe ein paar Männer seines Vertrauens beauftragt haben, ins Torre-Gefängnis einzudringen und die wenigen Leichen zu bergen, die der ungelöschte Kalk nicht zersetzt hatte. Und Marullo verkündet zu Recht seine Theorie von den bluttriefenden Leichenwagen, nur daß er sich über deren Bedeutung nicht im klaren ist. Die Karren werden durch die einzige Straße des Orts geführt (eben nicht still und heimlich und so gut wie unbemerkt am Meeresufer entlang), damit alle sie sehen können. Das ist der Regiestreich eines echten Meisters seines Fachs, vor dem ich den Hut ziehen muß: Jene entsetzliche Tatsache wird den imaginären Handschellen an den
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