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Eine Messe für all die Toten

Eine Messe für all die Toten

Titel: Eine Messe für all die Toten
Autoren: Colin Dexter
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der Hand fiel, und da fanden sie mich.
Philip Lawson verließ uns, und dann sprach Lionel lange mit mir. Ich bin auch
jetzt noch nicht bereit, alles preiszugeben, was er mir sagte, aber es lief
darauf hinaus, daß er mich um Hilfe bat. Er erinnerte mich an mein Versprechen
und bot mir an, mir sofort einen Scheck über 5000 Pfund auszustellen, wenn ich
tun würde, was er verlangte. Er sagte, ich solle die obere Wohnung in unserem
Haus freihalten, weil er seinen Bruder Philip dort unterbringen wollte. Es
würde sich höchstens um einen Monat handeln. Ich war wie betäubt und wußte
nicht recht, was das alles zu bedeuten hatte. Zu Hause wurde die Lage immer
prekärer. Die 500 Pfund von Lionel waren verbraucht. Die abgeteilte Wohnung war
jetzt zwar fast fertig, aber in unserem Teil des Hauses sah es schlimm aus. Die
Baufirma meinte, die Elektroinstallation müsse dringend erneuert werden, und
der Wassertank sei durchgerostet und könne jeden Tag ein Leck bekommen. Zu
allem Überfluß war die Gaszentralheizung, nachdem sie schon tagelang nur noch
notdürftig funktioniert hatte, in dieser Woche total ausgefallen. Ich hatte bei
meiner Kalkulation auch das Tapezieren der umgebauten Küche im Obergeschoß
nicht berücksichtigt, und der Kostenvoranschlag, den ich eingeholt hatte,
belief sich auf 200 Pfund — eine horrende Summe. Da war noch etwas. Ich hätte
schon früher darauf zu sprechen kommen sollen, aber da es das einzige ist, was
mich in diesem Fall wirklich belastet, haben Sie vielleicht Verständnis dafür,
daß ich gezögert habe. Lionel sagte, ich könne mich jetzt bei ihm revanchieren,
und zwar müsse ich — einmal nur — die Unwahrheit sagen. Er ließ mich feierlich
schwören, daß ich dieses eine Mal lügen würde. Mehr brauchte ich nicht zu tun,
betonte er, es sei für mich eine ganz einfache Sache. Ich war sehr froh, daß
ich ihm helfen konnte, und willigte sofort ein. Ich war völlig durcheinander,
als ich an diesem Abend die Kirche verließ. Ich versuchte nicht an Harry
Josephs zu denken, versuchte mir wohl sogar einzureden, ich hätte die ganze
Geschichte mißverstanden — was natürlich nicht stimmte. Ich wußte, daß Harry
Josephs sterben mußte und daß mein Versprechen, einmal zu lügen, etwas mit
diesem mir nicht unwillkommenen Ereignis zu tun hatte. Aber welche Rolle
spielte Philip Lawson dabei? Wahrscheinlich, dachte ich damals, ging es auch
bei ihm um Geld. Allmählich kam ich zu der Überzeugung, daß Lionel Lawson
seinen Bruder dafür bezahlt hatte, Harry Josephs zu ermorden, und daß es sich
bei meiner Lüge um ein Alibi handeln mußte. Aber ich verspürte keine
Gewissensbisse. Das Geld war es, das jetzt meine Handlungsweise bestimmte. Sex
war nicht mehr der beherrschende Faktor in meinem Leben. Im übrigen hätte ich
mich, wenn ich gewollt hätte, auch in diesem Punkt schadlos halten können. Ich
traf mich ein paarmal mit einem Mann in der Bar des Randolph, der zu
erkennen gab, daß ich ihm gefiel. Er war Verkaufsberater für eine renommierte
Firma, und sein Hotelzimmer ließ an Bequemlichkeit bestimmt nichts zu wünschen
übrig. Zu dieser Zeit wurde ich sparsam bis zum Geiz. Jetzt, da ich über weit
mehr Geld verfügte als je zuvor, ertappte ich mich dabei, daß ich es nach
Möglichkeit vermied, meine ' Drinks selbst zu bezahlen, daß ich es darauf
anlegte, mich zu teuren Essen einladen zu lassen, daß ich zu einem
ausgewachsenen Schmarotzer wurde. Ich kaufte mir keine neuen Kleider, kein
Parfüm, keine Delikatessen. Aber nicht nur in Gelddingen benahm ich mich
schäbig. Noch in derselben Woche rief ich Harry Josephs an und sagte ihm, mit
unseren wöchentlichen Treffen sei es aus, meine Mutter sei wieder sehr krank.
Solche Lügen gingen mir jetzt lächerlich leicht über die Lippen. Es war eine
gute Übung. Unser Boiler ließ sich noch einmal reparieren, und ich lehnte es
deshalb ab, einen neuen anzuschaffen. Weil mir der erste Voranschlag für die
Erneuerung der Elektroinstallation plötzlich erschreckend hoch vorkam, holte
ich mir einen Schwarzarbeiter, der den Auftrag für den halben Preis erledigte —
allerdings mehr schlecht als recht. An das Tapezieren der Küche im Obergeschoß
machte ich mich selbst und hatte einen Heidenspaß dabei. Jahrelang hatte ich
sonntags immer 50 Pence für die Kollekte gegeben, jetzt gab ich nur 20 Pence. Nur
die Kirche putzte ich nach wie vor, und ich war unheimlich stolz auf diese
selbstauferlegte Buße. Das klingt, als habe sich diese Entwicklung über
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