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Eine lange dunkle Nacht

Eine lange dunkle Nacht

Titel: Eine lange dunkle Nacht
Autoren: Christopher Pike
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jeden Tag und verstanden sich auch sonst prächtig. Das Schuljahr ging zu Ende, und sie verbrachten fast die ganzen Ferien zusammen, obwohl John natürlich noch immer auf der Tankstelle schuften mußte. Lieferte er seinen Verdienst mal nicht zu Hause ab, prügelte ihn sein Stiefvater mit einem Ledergürtel grün und blau. Der Kerl war ein totales Arschloch; wahrscheinlich haben sich bei ihm in den Jahren am Detroiter Fließband einige Schrauben gelockert, und nun tickte er nicht mehr richtig. Jedenfalls konnten sich die beiden nicht ausstehen.
    John wußte bis dahin nicht, daß Candy ein Geheimnis vor ihm hatte. Er fand es erst heraus, als das neue Schuljahr begann, das Abschlußjahr. Dazu mußt du wissen, daß Candy keine Kunstkurse belegte. Ihre Eltern wollten, daß sie Ärztin wurde. Ich sage extra ihre Eltern, weil Candy keine Ahnung hatte, was sie mit ihrem Leben anfangen sollte. Sie wußte nur, daß sie leidenschaftlich gern zeichnete. Im Zeichnen war sie ein richtiges Genie, echt. Doch das behielt sie für sich, denn sie hatte Angst, John würde sich über sie lustig machen. Das war so eine Unart von ihm. Er mußte die Leute immer verarschen. Wenn zum Beispiel jemand im Rollstuhl an ihm vorbeifuhr, ließ John unter Garantie einen blöden Spruch ab – nicht um den Typen zu verletzen, sondern um ihn zum Lachen zu bringen. John wollte den Leuten immer ein Lachen entlocken.
    Also, eines Tages besuchte er Candy, ohne sich vorher angekündigt zu haben. Sie saß in ihrem Zimmer vor ihrer Staffelei und arbeitete an einer Zeichnung von John und sich selbst am Strand, als John ohne Vorwarnung hereinplatzte. Sie malte mit Kohle – Candy zeichnete nur in Grau- und Schwarztönen. Später erzählte sie John, dies läge an ihrer Farbenblindheit, doch er glaubte, sie würde Witze machen. John wußte, nur eine verschwindend geringe Zahl aller Menschen war farbenblind.
    Wie dem auch sei, er platzte also aus heiterem Himmel ins Zimmer, und Candy wäre vor Scham beinahe tot umgefallen. Und glaub mir, es gehörte schon einiges dazu, Candy in Verlegenheit zu bringen. Wie auch, wenn sie in Gedanken auf dem Mond lebte? Aber was ihre Kunst betraf, da war sie wirklich sensibel. Sie wußte, jetzt würde John sie ohne Ende verarschen – was er dann auch tat. Ich weiß, was er in Wahrheit über Candys Bild dachte. Ihr Talent haute ihn einfach um, wirklich, er war vollkommen begeistert. In dem Augenblick, als er die Zeichnung von sich sah, klappte ihm die Kinnlade runter. Er konnte nicht glauben, wieviel Kraft sie in das Bild gelegt hatte. Sie hatte eine Seite von John erfaßt, die nur wenige Leute kannten. Den starken John, den John, der Träume Wirklichkeit werden lassen konnte. Er hätte es in der Tat zu etwas bringen können.
    Doch John ließ sich seine Verblüffung nicht anmerken, im Gegenteil, er fing an, sie aufzuziehen, meinte, auf dem Bild seien seine Ohren zu groß und seine Nase viel zu lang, und sie hätte ihn besser wie einen Supermacho mit Gewehr und Patronengurt zeichnen sollen. Candy verkraftete das nicht. Sie nahm das Bild von der Staffelei, zerriß es und warf die Schnipsel in den Papierkorb. Dann fing sie an zu weinen, was John nur noch mehr anheizte. Man durfte bei John niemals Schwäche zeigen. Für ihn war das wie eine Aufforderung, weiterzumachen. Das war seine Philosophie. Er mußte weitermachen, solange er die Möglichkeit hatte. Candy war das genaue Gegenteil. Sie ließ die Dinge geschehen, und wenn nichts geschah, um so besser. Sie konnte sich in ein Buch vertiefen und wußte, daß die Erde sich trotzdem weiterdrehte.
    Hinterher tat es John leid, was er mit Candy veranstaltet hatte. Er wollte ihre anderen Bilder sehen, doch sie zeigte sie ihm nicht, sondern versteckte sie bei einer Freundin. Fortan wußte John nie, woran sie arbeitete. Das nervte ihn. Candy bedeutete ihm etwas, und er wollte ein Teil ihres Lebens sein. Aber sie sperrte sich dagegen, was echt schade war, denn John hätte sie voranbringen, sie in die richtige Richtung lenken können. Ihm war klar, daß Candy nie im Leben Ärztin werden würde. Dafür fehlte es ihr an Disziplin. Er versuchte, ihren Eltern dies zu erklären, doch die wollten nichts davon hören, und er beließ es dabei.
    Das Jahr nahm seinen Lauf. Johns Noten waren exzellent und Candys recht gut, in erster Linie, weil John ihr bei allen Tests die richtigen Antworten zukommen ließ. Sie hatten ihre Stundenpläne so koordiniert, daß sie praktisch den ganzen Tag zusammen
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