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Eine Lady nach Maß

Eine Lady nach Maß

Titel: Eine Lady nach Maß
Autoren: Karen Witemeyer
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schnalzte empört mit der Zunge. „Himmel, Mädchen. Ich habe gedacht, Sie seien von der intelligenten Sorte. Habe ich mich die ganze Zeit über geirrt?“
    Das traf Hannah. Sie straffte die Schultern und hob ihr Kinn. „Nein, Madam.“
    „Gut.“ Miss Victoria schlug mit der Handfläche auf ihren Schreibtisch. „Jetzt sagen Sie mir endlich, was Sie denken.“
    Wenn diese Dame unbedingt ihre ehrliche Meinung hören wollte, würde Hannah gehorchen. Dieses Kleid war sowieso die letzte Arbeit, die sie für Miss Victoria erledigen würde. Es konnte also nicht schaden. Das einzige Problem war nur, dass Hannah sich im Laufe des Gespräches so sehr angestrengt hatte, keine eigene Meinung zu entwickeln, dass sie nun auch wirklich keine hatte. Sie versuchte, sich nicht zu einer überhasteten und dummen Antwort hinreißen zu lassen, und suchte deshalb erst einmal auf dem Fußboden nach ihrer Nähnadel.
    „Es scheint mir“, sagte sie, nachdem sie die Nadel gefunden hatte, „als müssten Sie sich entscheiden, ob Sie Ihr Land einem Mann überlassen, den Sie nur von seinem guten Ruf her kennen, oder Ihrem Neffen, mit dem Sie schon Ihre Erfahrungen gemacht haben.“ Hannah hob ihren Blick und blickte Miss Victoria in die Augen. Sie gestattete nicht, dass der durchdringende Blick sie einschüchterte. „Mit welcher Vorstellung könnten Sie eher leben?“
    Victoria Ashmont dachte einen Augenblick nach. Schließlich nickte sie und wandte sich ab. „Danke, Miss Richards. Ich denke, ich habe meine Antwort gefunden.“
    Kurz flackerte Triumph in Hannah auf, doch das Gefühl erlosch, als sie daran dachte, dass es hier um das Vermächtnis einer sterbenden Frau ging.
    „Verzeihen Sie mir meine Kühnheit, Madam.“
    Miss Victoria wandte sich ihr wieder zu und erhob einen knöchernen Zeigefinger. „Kühnheit ist genau das, was Sie brauchen, wenn Sie Ihr eigenes Geschäft führen wollen, Mädchen. Kühnheit, Können und harte Arbeit. Wenn Sie Ihren Laden haben, werden Sie die eine oder andere Notlage kennenlernen. Vertrauen ist die einzige Möglichkeit, alles zu überstehen – Vertrauen in sich selbst und in Gott, mit dem uns alles möglich ist. Vergessen Sie das nie.“
    „Ja, Madam.“
    Hannah fühlte sich ermahnt und ermutigt zur selben Zeit. Mit neuem Eifer ging sie an ihre Näharbeit. Das Kratzen eines Stiftes auf Papier ersetzte Miss Victorias Stimme, als die Frau sich wieder ihrer Korrespondenz widmete. In kurzer Zeit war Hannah mit den Änderungen fertig.
    Nachdem Miss Victoria das Kleid noch ein zweites Mal anprobiert und Hannahs Arbeit kritisch in Augenschein genommen hatte, wie es ihre Art war, begleitete sie Hannah in die große Empfangshalle.
    „Mein Butler wird Sie nach Hause bringen, Miss Richards.“
    „Danke, Madam.“ Hannah nahm ihre Haube in Empfang und verknotete die Enden unter ihrem Kinn.
    „Ich werde am Ende der Woche meine Rechnung bei Mrs Granbury begleichen, aber hier ist schon einmal der Bonus, den ich Ihnen versprochen habe.“ Sie streckte Hannah einen weißen Briefumschlag entgegen.
    Hannah nahm ihn an und steckte ihn behutsam in ihren Korb. Dann machte sie einen schnellen Knicks. „Vielen Dank. Es war mir eine Ehre, für Sie zu arbeiten, Madam. Ich bete dafür, dass Ihre Gesundheit sich bessert.“
    Ein seltsames Licht trat in Miss Victorias Augen, ein geheimnisvolles Schimmern, als könne sie die Zukunft sehen. „Sie haben Besseres vor sich, als seltsamen alten Damen rote Kleider zu nähen, Miss Richards. Verschwenden Sie nicht Ihre Energie darauf, sich um mich zu sorgen. Ich werde gehen, wenn es Zeit für mich ist, keinen Moment früher.“
    Hannah lächelte, als sie aus der Tür trat, und sie war sich sicher, dass nicht einmal die Engel persönlich Miss Victoria dazu bringen könnten, früher zu gehen als nötig. Doch unter der harten Schale der alten Dame schlug ein gütiges Herz.
    Wie gütig es war, erkannte Hannah aber erst, als sie zu Hause angekommen war und den Briefumschlag öffnete. Anstatt der zwei oder drei Dollar, die sie erwartet hatte, fand sie ein Geschenk, das ihr den Atem und die Fassung raubte.
    Sie ließ sich mit dem Rücken gegen die Wand ihres Zimmers sinken und rutschte langsam daran hinunter. Zitternd saß sie minutenlang auf dem Boden und starrte auf das Papier vor sich. Sie blinzelte mehrmals, auch um die Tränen zu verdrängen, die in ihre Augen stiegen, aber nichts konnte die Tatsachen ändern.
    In ihren Händen hielt sie die Besitzurkunde für ihr eigenes
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