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Eine Klasse für sich

Eine Klasse für sich

Titel: Eine Klasse für sich
Autoren: Julian Fellowes
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war und ihr Leben seither eine Lüge ist, weil sie jemand anderen geheiratet hat, obwohl sie lieber mit dir zusammen gewesen wäre. Ist diese Variante für dich denkbar? «
    »Nein. Eigentlich nicht. Wenn das alles wäre, hätte sie dann erst nach zwanzig Jahren geschrieben?«
    »Manche brauchen womöglich länger, um über solche Dinge hinwegzukommen. «
    »›Diese Lüge habe ich jeden Tag vor Augen.‹ ›Niemand wird je die Wahrheit erfahren.‹ Welche Wahrheit?« Er stellte die Frage, als könnte an der Antwort kein Zweifel bestehen.
    Ich stimmte ihm durchaus zu und nickte. »Wie gesagt, du hast sie geschwängert.«
    Er schien fast beruhigt, dass der Brief keine andere Deutung zuließ. Er hatte ihn an mir getestet. Er nickte ebenfalls. »Und sie hat das Baby bekommen.«
    »Hört sich so an. Allerdings wirkt die ganze Geschichte ziemlich melodramatisch. Ich frage mich, warum sie es nicht hat wegmachen lassen.«
    Damian bedachte mich mit seiner unnachahmlichen Kombination aus hochmütigem Blick und verächtlichem Schnauben. »Ich kann mir vorstellen, dass eine Abtreibung gegen ihre Prinzipien war. Manche Menschen haben nämlich so was.«
    Jetzt war es an mir, höhnisch zu schnauben. »In diesem Punkt muss ich mich nicht von dir belehren lassen«, fauchte ich, was er widerspruchslos schluckte. Sein Glück. Langsam wurde mir das Thema lästig. Wozu ritten wir so lange darauf herum? »Na schön. Sie hat das Kind gekriegt, und niemand weiß, dass du der Vater bist. Schluss, aus.« Ich starrte auf den sorgsam gehüteten Umschlag. »Oder war doch nicht Schluss? Kam noch etwas nach?«

    Er nickte. »Genau dasselbe dachte ich damals auch. Dass der Brief nur der Anfang einer … ich weiß nicht … einer Erpressung wäre.«
    »Erpressung?«
    »Ich habe meinen Anwalt konsultiert. Er riet mir, ihren nächsten Schritt abzuwarten. Seiner Meinung nach arbeitete sie eindeutig auf eine Geldforderung hin, ein Fall, für den wir gerüstet sein sollten. In jenen Tagen stand ich öfter in den Zeitungen, beruflich war mir schon einiges geglückt. Wahrscheinlich hatte sie erkannt, dass der Kindsvater inzwischen reich und der Zeitpunkt für einen Versuch gekommen war. Mein Sprössling wäre neunzehn gewesen …«
    »Neunzehn«, verbesserte ich ihn. »Sie lebte seit neunzehn Jahren mit einer Lüge vor Augen.«
    Er blickte mich verwirrt an und nickte dann. »Neunzehn und damit wohl gerade dabei, flügge zu werden. Da kommt Bares immer sehr gelegen.« Er sah mich an. Ich hatte dem nichts hinzuzufügen, denn es erschien mir recht plausibel, wie ja auch dem Anwalt. »Ich hätte ihr auch etwas gegeben«, sagte er vehement, wie um sich zu verteidigen. »Dazu war ich durchaus bereit.«
    »Aber sie hat nicht mehr geschrieben.«
    »Nein.«
    »Vielleicht ist sie gestorben.«
    »Vielleicht. Aber da wären wir wieder beim Melodram. Vielleicht ist der Brief, wie du sagst, wirklich nur aus Versehen aufgegeben worden. Jedenfalls haben wir nichts mehr gehört, und allmählich geriet die Sache in Vergessenheit.«
    »Warum rollst du sie jetzt wieder auf?«
    Er antwortete nicht sofort, sondern erhob sich und ging zum Kamin hinüber. Ein Holzscheit war nach vorne gerollt; er nahm den Schürhaken und rückte es äußerst konzentriert zurecht. »Es geht mir darum …«, sagte er schließlich in die Flammen, letztlich aber zu mir, »ich will das Kind finden.«
    Für mich entbehrte das jeder Logik. Wenn er etwas wiedergutmachen wollte, warum hatte er es dann nicht vor achtzehn Jahren getan, als es wirklich sinnvoll gewesen wäre? »Ist es dafür nicht ein bisschen spät?«, fragte ich. »Es wäre schon zum Zeitpunkt, als sie den Brief
geschrieben hat, nicht einfach gewesen, plötzlich den Papa zu spielen. Aber jetzt ist das ›Kind‹ ein Mann oder eine Frau Ende dreißig, eine voll entwickelte Persönlichkeit. Jetzt ist es viel zu spät, um den Werdegang deines Sprösslings zu unterstützen.«
    Was ich sagte, schien ihm nicht von Gewicht. Ich war nicht einmal sicher, ob es zu ihm durchdrang. »Ich will die beiden finden«, wiederholte er. »Ich möchte, dass du sie findest.«
    Jetzt so zu tun, als hätte ich noch nicht gemerkt, wohin der Hase lief, wäre nur albern gewesen. Aber eine solche Aufgabe war ganz und gar nicht nach meinem Geschmack. »Warum ausgerechnet ich?«
    »Bevor wir uns kennenlernten, hatte ich erst mit vier Mädchen geschlafen.« Er zögerte. Ich hob schwach die Augenbrauen. Jeder Mann meiner Generation wird begreifen, wie beeindruckend
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