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Eine Katze hinter den Kulissen

Titel: Eine Katze hinter den Kulissen
Autoren: Lydia Adamson
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mir jedes Jahr in einem Umschlag gab, »damit du
dir was Schönes kaufen kannst«, wie sie immer fröhlich
sagte.
    Aber jetzt blieb mir nichts anderes übrig, als
mich um die unglückliche Frau zu kümmern, die da vor meinem
Wohnzimmerfenster weinte. Ich ging zu ihr hinüber, legte einen Arm
um ihre Schulter und führte sie zurück zu ihrem Stuhl.
    »Ich ... ich mußte ihn ...
identifizieren, Alice! Kannst du dir vorstellen, wie das war? Er war so
... so ... seine Augen ..., sie waren so weit aufgerissen! Und dieses
schreckliche Loch in seinem Kopf! Du kannst dir gar nicht vorstellen,
wie fürchterlich das war!«
    Ich dachte, es wäre das Beste, Lucia nicht zu
unterbrechen und ihr zu sagen, daß ich genau wußte, wie so
etwas war. Ich hatte meine Erfahrungen mit Leichen.
    »Ich möchte dir etwas erzählen,
Alice.« Sie war jetzt ein wenig ruhiger und nahm einige Schlucke
Kaffee. »Es ist etwas sehr ... Persönliches.«
    Ich wartete.
    »Vor ungefähr vier Jahren hatte ich ... Dobrynin und ich waren ein Liebespaar.«
    Ich konnte mein Erstaunen wohl kaum verbergen.
    »Doch«, fuhr Lucia fort, als ob sie meine
Bedenken zerstreuen wolle. »Ich hatte eine Affäre mit
ihm.«
    Die wohlerzogene, anständige Lucia - wie ich
eine Frau mittleren Alters - und der besessene Verführer Dobrynin?
Ich hatte bestimmt schon absurdere Geständnisse gehört, aber
im Moment wollte mir keines einfallen. Das war doch nicht möglich.
Das war ja, als wenn die Königin von England zugeben würde,
was mit Fidel Castro gehabt zu haben. Oder Dietrich Fischer-Dieskau,
der seine jahrelange Beziehung zu Janis Joplin gestand.
    Lucia Maury war immer eine sehr liebe Frau gewesen,
und sie war es auch jetzt noch. Sie war aus Delaware nach New York
gekommen. Ihre Familie war äußerst wohlhabend und ebenso
prüde, Puritaner durch und durch. Und Lucia war im Grunde genauso,
trotz ihres kulturellen Niveaus und ihren Erfahrungen. Sogar in der
Zeit, die bei anderen die »wilden Zwanziger« sind, hatte
sie niemals Alkohol angerührt oder eine Zigarette geraucht. Ich
hatte nie erlebt, daß sie nach Mitternacht noch auf war. Harte
Arbeit, Disziplin und Leidenschaft für die Kunst - sonst kannte
sie nichts.
    Und jetzt erzählte sie mir, sie habe eine
Affäre mit einem Satyr gehabt. Ein großer Tänzer, ohne
Zweifel. Aber auch ein ausschweifender Mann, besonders was Sex betraf.
Dobrynins Unersättlichkeit und seine phantasievolle
Verführungskunst waren legendär. Offenbar hatte es ihm
Spaß gemacht, der Regenbogenpresse und den Klatschspalten endlos
Stoff zu liefern.
    »Ich habe ihn sehr geliebt, Alice«, flüsterte sie. »Wir haben uns sehr geliebt.«
    Das bezweifelte ich zwar sehr, aber das sagte ich
natürlich nicht. Wenn Dobrynin überhaupt etwas geliebt hatte,
dann das Ballett, den Alkohol und sich selbst, dachte ich, aber
wahrscheinlich nicht unbedingt in dieser Reihenfolge.
    »Er war nicht so, wie die Leute immer
sagen.« Lucia war wieder aufgestanden. »Glaub mir, Alice,
Peter war lieb und wunderschön ...« Sie brach den Satz ab
und drehte sich wieder zum Fenster um, bevor sie weitersprach.
»Es ist so schrecklich, so tragisch. Er hätte der
größte Tänzer der Welt sein können.«
    Sie beugte sich herunter und griff nach meiner Hand.
»Versprich mir, daß du mit mir zu der Beerdigung gehst.
Bitte, Alice.«
    »Natürlich, Lucia, wenn du das
möchtest. Aber warum setzt du dich jetzt nicht hin und entspannst
dich ein bißchen?«
    Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Ich muß jetzt nach Hause.«
    »Ich begleite dich«, bot ich an.
    »Nein«, sagte sie entschlossen. »Du
hast schon genug für mich getan. Mach’s gut, Alice.«
Sie nahm ihre Sachen und ging.
    3
    Als ich mit Lucia die höhlenartige
russisch-orthodoxe Kirche betrat, hatte ich sofort das Gefühl, in
einem fremden Land zu sein. Überall waren Blumen und prächtig
bestickte Priestergewänder, und es duftete nach Weihrauch. Dies
war eine Beerdigung vom Typ »letzter großer
Auftritt«, wie ein respektloser Schauspielerkollege solche
Ereignisse einmal genannt hatte. Die Trauergäste waren nicht
weniger elegant, herausgeputzt und ehrfurchtgebietend. Wohin man auch
schaute, sah man dicken schwarzen Samt, Pelze, fließenden
Chiffon: blasse makellose Haut, gehüllt in dunkle Eleganz.
    Einen starken Kontrast zu all dieser Pracht bildete der schlichte geschlossene Sarg, ein einfaches Modell ohne jede Verzierung.
    Lucia und ich saßen in einer der hinteren
Reihen und beobachteten die Hereinströmenden. Diese
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