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Eine Hand voll Asche

Eine Hand voll Asche

Titel: Eine Hand voll Asche
Autoren: Jefferson Bass
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Drittklässler blamieren. Aber ich wollte mich auch nicht im Auto übergeben. Also suchte ich den Straßenrand nach einem Stück Standspur ab, einer Stelle, wo ich gefahrlos an den Rand fahren konnte, doch der Straßenbelag war wie in eine schmale Felsbank eingekerbt. Anderthalb Meter zur Rechten war massiver Berghang, anderthalb Meter zur Linken felsiges Flussufer. Ich war, wie es in einem alten Sprichwort heißt, quasi zwischen Baum und Borke gefangen.
    Meine dreißig Sekunden verstrichen rasch. In einer Rechtskurve ließ ich das Auto schließlich ganz nach links schlittern, die Außenseite der Kurve, wo ich hoffte, besser gesehen zu werden. Ich stieg auf die Bremse, fuhr mit zwei Rädern so weit ich es wagte vom Straßenbelag und schaltete die Warnblinkanlage ein. Ich warf die Tür auf und lehnte mich just in dem Moment hinaus, als mein Magen sich zum ersten Mal hob.
    Ich hatte seit einer eiligen Schüssel Getreideflocken vor neun Stunden nichts gegessen, also kam nicht viel – nur ein bisschen Magensaft, der mir scharf und ätzend in Mund und Nase brannte. Doch das trockene Würgen trieb mir die Tränen in die Augen. Als die krampfartigen Würgereize nachließen, atmete ich einige Male tief durch, bevor ich eine zweite Welle über mich ergehen lassen musste. Während ich noch so aus der Tür des Pick-ups hing, hörte ich hinter mir Bremsen quietschen. Ich erwartete, dass ein Auto auf mich draufknallte, doch es gab keinen Aufprall, und das unbekannte Auto beschleunigte plötzlich und fuhr mit quietschenden Reifen weiter.
    Völlig erschöpft, aber auch erleichtert – es hatte mich schon immer erstaunt, wie gut ich mich fühlte, nachdem ich mich übergeben hatte, besonders wenn in meinem Magen nichts war, was Übelkeit erregte – setzte ich mich auf, atmete noch ein paarmal tief durch und wischte mir mit einem Taschentuch den Mund ab. Ich machte im Geiste Inventur und war erleichtert, als ich feststellte, dass das drohende Schwindelgefühl weitgehend verschwunden war. Auf dem Beifahrersitz lag eine halbvolle Flasche Wasser, und ich nahm dankbar einen kleinen Schluck und spülte mir den Mund aus. Dann legte ich den Gang ein, fuhr mit den linken Rädern wieder auf die Straße und setzte meine Fahrt über die River Road fort, diesmal in meinem typisch besonnenen Tempo.
    Einige ruhige Meilen weiter kam ich an eine gekieste Einfahrt, an der ein Schild »Almost Heaven« stand, und bog ab. An einem Baum seitlich der Einfahrt war noch das Polizeiabsperrband befestigt, doch verlief es nicht quer über die Zufahrt, sondern lag in einem Knäuel am Fuß des Baums, vom nächtlichen Sturzregen mit Matsch bespritzt.
    Bei der holpernden Weiterfahrt durch eine Reihe von Pfützen fiel mir auf, dass vor mir schon jemand hier gewesen war. Jim O’Conner, vermutete ich, oder ein Sachverständiger der Versicherung, der sich für den Ferienhausvermieter um die Schadensregulierung kümmerte. Als ich die Lichtung erreichte, sah ich neben dem Krater, wo einst die Hütte gestanden hatte, einen Pick-up stehen. Ich rief: »Hallo? Hallo?«, bekam jedoch keine Antwort. Bäume und Vegetation um die Lichtung herum waren immer noch angesengt, doch ein Teppich aus frischem Grün milderte die Verwüstung schon wieder etwas. Offener Boden unter freiem Himmel war in den Bergen eine Seltenheit, und die optimistischen, opportunistischen Pionierpflanzen hatten keine Zeit vergeudet, Anspruch auf diesen vorzüglichen Flecken sonnenbeschienener Erde zu erheben, der ihnen wie ein plötzlicher und unerwarteter Glücksfall vorgekommen sein musste.
    Ich trat langsam an den Rand des Kraters und schaute hinunter. Inzwischen lag der halbe Keller im Schatten, und ich wusste, dass ich nicht viel Zeit hatte – dreißig Minuten etwa –, bevor es zum Arbeiten zu dunkel wurde. Ich war mir nicht recht sicher, was ich hier suchte, doch ich wusste, dass da etwas sein musste: etwas Kleines, Zartes, das wir in der Aufregung, nicht nur ein, sondern gleich zwei Skelette aus den Trümmern zu bergen, übersehen hatten.
    An dem Tag, als wir die Leichen gesucht und geborgen hatten, waren mehr als ein Dutzend Polizisten und Feuerwehrleute da gewesen, um uns zu helfen. Wir hatten auch eine Leiter gehabt, die fest auf dem Estrich des Kellers gestanden hatte. Wenn ich vorausblickender gewesen wäre, hätte ich von zu Hause eine Trittleiter mitgebracht, doch in dem Augenblick, da ich das Puzzle der Stirnbeinhöhle gelöst hatte, war ich impulsiv vom Tisch im Knochenlabor
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