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Eine Hand voll Asche

Eine Hand voll Asche

Titel: Eine Hand voll Asche
Autoren: Jefferson Bass
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diesen einen kleinen, verständlichen Fehler nicht unter die Nase rieb. Mein innerer Lehrer setzte zu einer selbstgerechten Erwiderung an – in dem Sinne, es sei herablassend, Miranda vor dem Wissen zu bewahren, dass sie einen Fehler gemacht hatte –, als mein Blick von einem Schimmern auf dem Tablett mit Knochenfragmenten angezogen wurde. Die Lupenlampe tauchte das Tablett in grelles Licht, und das leichte Nachwippen der Lampe führte dazu, dass ein Knochenstück in der Linse auftauchte, wieder verschwand und wieder auftauchte, wuchs und schrumpfte, wenn es durchs Sichtfeld tauchte. Es war fast, als würde das Stück atmen, sich ausdehnen und zusammenziehen, lebendig werden. Während ich dabei zuschaute, dämmerte mir, dass mir das Stück irgendwie bekannt vorkam, auf umgekehrte Weise: Seine schartige Kante war das Pendant zu einem der Teile an dem rekonstruierten Fragment. Wenn ich den Kleber mit ausreichend Azeton anfeuchtete – genug, um das falsche Stück abzulösen, aber nicht so viel, dass sämtliche Teile auseinanderfielen –, konnte ich das Teilchen, das da unter der Lupe tanzte, an diese Stelle setzen.
    Zehn Minuten später hatte ich das neue Puzzlestück angeklebt. Da der Duco-Klebstoff noch feucht war, ließ ich es auf der Leuchtplatte trocknen – neben dem Röntgenbild, mit dem ich es gerade verglichen hatte. Dann schloss ich das Labor ab und lief zu meinem Wagen. Als ich unter dem Stadion herausfuhr, stellte ich erstaunt fest, dass es bereits später Nachmittag war. Ich hatte den Kopf mehr als acht Stunden in Knochenfragmente vergraben.
    Ich eilte den Neyland Drive nach Westen, schwenkte auf die Auffahrt zum Alcoa Highway nach Norden, die schnellste Verbindung, wenn man die I-40 nach Osten nehmen wollte. Als ich auf die Interstate fuhr, schaute ich im Rückspiegel, wie hoch die Sonne noch stand. Ich schätzte, dass mir noch drei Stunden Tageslicht blieben, in den Bergen womöglich nur zwei. Die Fahrt würde eine Stunde dauern. Ich hoffte, die andere Stunde reichte, um das zu finden, was in Cooke County auf mich wartete.

34
    Die Hinterräder des Wagens kreischten, als ich die kurvenreiche River Road entlangraste. Gut, dass die Sonne die Fahrbahn tagsüber getrocknet hatte, sonst hätte ich längst an einer Platane am Bachufer geklebt.
    Die gelbe Linie auf der Fahrbahn schwänzelte unter dem Wagen hin und her, als ich die Kurven jeweils in der Mitte der Innenseite nahm – »Kurven glätten«, nannten die Südstaatler das, und als mir aufging, was ich da machte, lachte ich. Es war noch kein Jahr her, dass ich meinen ersten Ausflug nach Cooke County unternommen hatte. Just auf dieser Straße hatte ich mich als reisekranker Beifahrer mit weißen Fingerknöcheln schwindelnd an den Sitz geklammert. Jetzt fuhr ich genauso verwegen wie der Deputy damals. Die Dinge ändern sich , dachte ich.
    Doch nicht alle Dinge änderten sich. Ich spürte eine Welle der Übelkeit rasch aufsteigen, und das aufkommende Schwindelgefühl warnte mich, dass ich kurz vor einem Anfall von Drehschwindel stand. Nicht jetzt , betete ich, bitte nicht jetzt . Plötzlich war meine Stirn schweißnass, und mein Mund füllte sich mit Spucke. Ich drosselte das Tempo, drehte die Klimaanlage auf Hurrican-Stufe und atmete so viel kalte Luft ein, wie nur möglich war.
    Als Kind in der Grundschule hatten meine Lehrer und ich – auf die harte, demütigende Tour – gelernt, dass ich, wenn ich so anfing zu schwitzen und Speichel abzusondern, noch dreißig Sekunden hatte, bis mir das Frühstück oder das Mittagessen hochkam. Dieses Gefühl drohenden Verhängnisses war mir schon immer verhasst gewesen – Schweiß und Speichel trogen nie –, doch ich empfand auch widerwillige Dankbarkeit für das Frühwarnsystem. Mir war aufgefallen, dass nicht jeder so etwas besaß, und die anderen erlitten manchmal noch mehr Demütigungen als ich. Kaum eine Erfahrung ist für einen Achtjährigen so entwürdigend, wie den halben Tag in Klamotten in der Schule zu hocken, die nach Kotze riechen. Sich die Hose vollzumachen – ob in flüssiger oder in fester Form – war so ungefähr das Einzige, was noch schlimmer war, als sich zu übergeben. Und das eine wie das andere konnte einen für den Rest des Schuljahrs verfolgen, als klebte einem der schwache Duft des Unfalls Wochen oder gar Monate später immer noch in Haaren oder Kleidern.
    Bei der Fahrt über die kurvenreiche Provinzstraße machte ich mir keine Sorgen mehr, ich könnte mich vor einem Haufen
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