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Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten

Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten

Titel: Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten
Autoren: Neil MacGregor
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afrikanische Schlitztrommel aus Holz in Form eines Kurzhorn-büffels (Kapitel 94). Sie wurde zunächst für einen Herrscher vermutlich im Norden des Kongo angefertigt, dann in Khartum zu einem islamischen Objekt umgemodelt und schließlich, nachdem der Earl of Kitchener sie mitgenommen hatte, mit der Krone Königin Viktorias versehen und nach Windsor geschickt – eine in Holz geschnitzte Geschichte der Eroberungen und Weltreiche. Ich glaube nicht, dass irgendein Text so viele Geschichten aus Afrika und Europa in sich vereinen oder sie auf so eindrucksvolle Weise unmittelbar vor Augen führen könnte. Eine solche Geschichte kann nur ein Gegenstand erzählen.
    Zwei Objekte in diesem Buch berichten auf verstörend materielle Weise von wechselnden Loyalitäten und gescheiterten Strukturen, indem sie zwei verschiedene Gesichter zweier verschiedener Welten zeigen. Von vorne betrachtet, kündet die steinerne Statue des Hoa-haka-nana-ia (Kapitel 70) mit unerschütterlichem Selbstvertrauen von der Macht der Vorfahren, welche die Osterinsel beschützen werden, wenn man sie nur entsprechend verehrt. Auf der Rückseite jedoch ist das Scheitern eben jenes Kults verewigt sowie dessen spätere, ängstliche Ersetzung durch andere Rituale, als das Ökosystem der Osterinsel zusammenbrach und die für das Leben dort unabdingbaren Vögel die Insel verließen. An dieser einen Statue lässt sich somit die jahrhundertelange Religionsgeschichte einer Gemeinschaft ablesen. Im Gegensatz dazu weist der russische Revolutionsteller (Kapitel 96) Veränderungen auf, die in erster Linie aus menschlichen Entscheidungen und politischem Kalkül resultierten. Dass man kaiserliches Porzellan verwendete, um bolschewikische Bildsprache zu vermitteln, entbehrt nicht einer gewissen Ironie; doch stärker noch ist die Bewunderung für die unsentimentale kommerzielle Brillanz, die zurecht darauf setzte, dass kapitalistische Sammler im Westen für einen Teller mehr bezahlen würden, der Hammer und Sichel der Revolution mit dem imperialen Monogramm des Zaren auf sich vereinte. Der Teller zeigt die ersten Stufen des vielschichtigen historischen Kompromisses zwischen den Sowjets und den freiheitlichen Demokratien, der die nächsten siebzig Jahre Bestand haben sollte.
    Diese beiden Umarbeitungen sind ebenso faszinierend wie lehrreich, doch am meisten Freude bereitet mir persönlich zweifellos die Umgestaltung der Ermahnungs-Bildrolle (Kapitel 39). Über Jahrhunderte hinweg hatten die jeweiligen Besitzer und Liebhaber ihre Freude an diesem berühmten Meisterwerk chinesischer Malerei, wenn es langsam vor ihnen entrollt wurde, und sie haben dies dann dokumentiert, indem sie die Rolle mit ihrem Stempel versahen. Das Ergebnis mag auf das westliche Auge schockierend wirken, denn hierzulande gilt das Kunstwerk als beinahe sakraler Bereich; ich finde diese ästhetischen Bekenntnisse und Bekundungen jedoch sehr bewegend, denn sie schaffen eine Gemeinschaft gemeinsamen Vergnügens, die Jahrhunderte umfasst und in die wir unsererseits Aufnahme finden – auch wenn wir keine Markierungen hinterlassen. Nichts könnte deutlicher zum Ausdruck bringen, dass dieser wundervolle Gegenstand, der Menschen über einen sehr langen Zeitraum auf ganz unterschiedliche Weise bezaubert hat, noch immer Freude bereiten kann und es nun an uns ist, ihn zu genießen. Die Biographien von Dingen können sich im Laufe der Zeit aber auch noch auf andere Weise verändern. Eine der Kernaufgaben der Museologie – und hier insbesondere der Konservierung und Bestandserhaltung – besteht darin, unsere Objekte immer wieder neu zu analysieren, wenn neue Technologien es uns erlauben, neue Fragen an sie zu stellen. Insbesondere in den letzten Jahren gab es auf diesem Gebiet erstaunliche Ergebnisse zu besichtigen, die bislang unbekannte Dimensionen und Perspektiven eröffneten und bei Dingen, die wir für erforscht und vertraut hielten, ungeahnte Bedeutungen entdeckten. Zurzeit verändern sich die Objekte rasch. Das eindrücklichste Beispiel dafür ist in diesem Buch sicherlich das Jadebeil aus Canterbury (Kapitel 14), dessen Herkunft wir heute bis zu dem Felsblock hoch oben in den Bergen Norditaliens zurückverfolgen können, von dem es ursprünglich abgeschlagen wurde. Daraus ergeben sich ein ganz neues Verständnis der Handelsrouten im frühen Europa und ein ganzes Bündel frischer Hypothesen über die Bedeutung des Beils als solchem, das möglicherweise besonders wertvoll war, weil sein Ursprung
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