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Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten

Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten

Titel: Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten
Autoren: Neil MacGregor
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erster Hand zwangsläufig ein verzerrtes Bild, stellen nur die eine Hälfte eines Dialogs dar. Wollen wir auch die andere Seite dieses Austauschs ausfindig machen, müssen wir nicht nur die Texte, sondern auch die Objekte lesen.
    Doch das alles ist natürlich leichter gesagt als getan. Aufgrund des Studiums von Texten Geschichte zu schreiben ist ein vertrautes Vorgehen, und wir verfügen über einen über Jahrhunderte gewachsenen kritischen Apparat, der uns bei der Beurteilung schriftlicher Aufzeichnungen behilflich ist. Wir haben gelernt, ihre Offenheit, ihre Verzerrungen, ihre Täuschungen einzuschätzen. Auch im Hinblick auf Objekte verfügen wir natürlich über Expertisestrukturen – archäologischer, naturwissenschaftlicher, anthropologischer Natur –, die es uns ermöglichen, die Objekte kritisch zu hinterfragen. Zusätzlich jedoch brauchen wir ein gehöriges Maß an Vorstellungskraft, wenn wir dem Artefakt sein früheres Leben ablauschen, wenn wir uns mit ihm so großzügig, so poetisch wie nur möglich befassen, in der Hoffnung, es möge uns die Erkenntnisse vermitteln, die es in sich trägt.
    Bei vielen Kulturen ist das ohnehin die einzige Möglichkeit, um überhaupt etwas über sie zu erfahren. Die Moche-Kultur Perus beispielsweise lebt heute allein über das archäologische Material fort. Ein Gefäß in Form eines Kriegers (Kapitel 48) ist einer der wenigen Ausgangspunkte, um herauszufinden, wer diese Menschen waren, und zu verstehen, wie sie lebten, wie sie sich und ihre Welt sahen. Wir haben es hier mit einem komplizierten Prozess mit unsicherem Ausgang zu tun, denn wir müssen Objekte, die heute nur über verschiedene Schichten kultureller Übertragung greifbar sind, eingehend untersuchen und anschließend «re-imaginieren», also sie uns in ihrem ursprünglichen Kontext vorstellen. So hat etwa die spanische Conquista der Azteken für uns den aztekischen Kriegszug gegen die Huaxteken überlagert. Aufgrund dieser geschichtlichen Umwälzungen ist die Stimme der Huaxteken heute nur über einen zweifachen «Umweg» vernehmbar, nämlich über eine spanische Version dessen, was ihnen die Azteken über dieses Volk berichtet haben. Was aber dachten die Huaxteken selbst? Sie hinterließen keine schriftlichen Aufzeichnungen, doch die materielle Kultur der Huaxteken ist in Figuren wie einer eineinhalb Meter großen Göttin aus Stein erhalten geblieben (Kapitel 69), die man zunächst mit der aztekischen Muttergöttin Tlazolteotl und später mit der Jungfrau Maria assoziierte. Diese Skulpturen sind die wichtigsten Dokumente für das religiöse Denken der Huaxteken; ihre genaue Bedeutung bleibt zwar rätselhaft, doch ihre numinose Präsenz sorgt dafür, dass wir die aztekischen und spanischen Berichte aus zweiter Hand noch einmal neu lesen, mit veränderter Perspektive und schärferen Fragen – letztlich aber vertrauen wir noch immer unseren eigenen Intuitionen im Hinblick darauf, was in diesem Dialog mit den Göttern geschieht.
    Solche Akte imaginärer Interpretation und Aneignung sind für jede «Geschichte in Dingen» von essenzieller Bedeutung. Diese Methoden des Verstehens waren schon den Begründern des Britischen Museums vertraut, für sie war die Rückgewinnung vergangener Kulturen eine wesentliche Grundlage, um unser gemeinsames Menschsein zu begreifen. Die Sammler und Gelehrten der Aufklärung gingen diese Aufgabe auf zweifache Weise an, nämlich mit einer wissenschaftlichen Ordnung der Fakten einerseits und einer seltenen Fähigkeit zur poetischen Rekonstruktion andererseits. Gleiches wurde zur gleichen Zeit auf der anderen Seite der Welt versucht. Qianlong, Kaiser von China und Zeitgenossedes britischen Königs Georg III., war Mitte des 18. Jahrhunderts ebenfalls darum bemüht, zusammenzutragen, zu sammeln, zu klassifizieren, zu kategorisieren, die Vergangenheit zu erkunden, Wörterbücher zu erarbeiten, Enzyklopädien zu erstellen und über das zu schreiben, was er entdeckt hatte, nach außen hin genau wie ein europäischer Gentleman und Gelehrter dieser Zeit. Zu den zahlreichen Gegenständen, die er zusammentrug, gehörte auch eine Bi-Scheibe aus Jade (Kapitel 90), die große Ähnlichkeit mit den Jadescheiben aufweist, wie man sie in den Gräbern der Shang-Dynastie aus dem Jahr 1500 v. Chr. gefunden hat. Wozu genau sie verwendet wurden, ist bis heute unbekannt, aber es handelt sich mit Sicherheit um Objekte von hohem Status, die zudem wunderschön gefertigt sind. Kaiser Qianlong bewunderte
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