Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Eine ganz andere Geschichte

Eine ganz andere Geschichte

Titel: Eine ganz andere Geschichte
Autoren: Hakan Nesser
Vom Netzwerk:
Timing. Sie wollte für diese Urlaubswoche nach Jütland fahren, um ihm zu sagen, dass sie sich scheiden lassen will. Er wollte dorthin fahren, um sie zu ermorden und ins Meer zu werfen. Man kann wohl behaupten, dass er ihr einen Schritt voraus war. Und Jessica Lund ist überzeugt davon, dass Katarina absolut nichts davon wusste, was er tat. Sie wusste natürlich, dass er verrückt war, aber nicht, dass er so verrückt war.«
    »Nein«, sagte Barbarotti. »Wie sollte sie auch?«
    »Sie war wahrscheinlich auch ein bisschen betriebsblind«, fuhr Astor Nilsson mit finsterer Miene fort. »Es ist schwer, den Wahnsinn zu erkennen, wenn man mitten in ihm lebt. Ich hatte auch mal so eine Periode in meinem Leben. Aber einer von Malmgrens Kollegen hat etwas Interessantes gesagt. Er würde freiwillig sein Leben um dreißig Jahre verkürzen, wenn er dafür Ehre und Ruhm bekäme.«
    »Henrik Malmgren?«
    »Ja.«
    »Was für ein wahnsinniger Handel.«
    »Das kann man wohl sagen«, sagte Astor Nilsson. »Aber es gibt natürlich diese Sorte Menschen. Du kriegst den Nobelpreis, wenn du einverstanden bist, dass du mit 52 stirbst. Ohne Preis wirst du 82 … aber ich weiß natürlich nicht, ob er recht hatte, dieser Kollege. Die Leben, die Malmgren verkürzte, waren ja nicht seine eigenen.«
    »Er kommt Mitte nächster Woche«, schloss Barbarotti das Gespräch ab. »Dann werden wir sehen, was er zu sagen hat, wenn wir ihm Aug in Aug gegenübersitzen.«
    »Das werden wir wohl«, bestätigte Astor Nilsson. »Ja, ich werde alles versuchen, um dann dabeisein zu können. Aber ist es nicht traurig, dass man geil darauf wird, so ein Monster zu betrachten? Ihn zumindest einmal sehen möchte?«
    »Das ist eine Lust, die du mit dem Rest der Menschheit teilst«, sagte Gunnar Barbarotti.
    »Ja, ich weiß«, nickte Astor Nilsson. »Was die Sache nicht besser macht. Dass die anderen genauso pervers sind wie man selbst. Aber Typen wie Henrik Malmgren gibt es ja nun wirklich selten – glücklicherweise.«
    »Was meinst du, wie sein Bruder ist?«, fragte Barbarotti.
    »Dessen Frau ist ja offenbar mit dem Leben davongekommen, also ist er wohl ein ganz netter Kerl«, sagte Astor Nilsson. »Nein, jetzt will ich nicht mehr darüber reden.«
    »Ich auch nicht«, stimmte Barbarotti zu. »Irgendwann kriegt man genug davon.«
    Nach dem Gespräch mit Astor Nilsson stellte sich Gunnar Barbarotti ans Fenster und schaute hinaus. Das taten doch die flotten Bullen in den Büchern immer. Blickten durch die Jalousienlamellen auf ein regengraues Paris oder einen zinnoberpatinierten Himmel mit der Andeutung von Schnee über Göteborg. Ließen den äußeren Raum (die Stadt, den Schauplatz des Verbrechens) mit dem inneren (dem Gehirn des Bullen) auf eine subtile, literarische Art und Weise korrespondieren. Barbarottis Problem war, dass vier Fünftel seiner Aussicht von der Längsfront der stillgelegten Schuhfabrik von Lundholm & Söhne eingenommen wurde. Sie stand jetzt seit mehr als zwanzig Jahren leer und unbenutzt da, alle Fensterscheiben waren eingeschlagen, und er wünschte sich, dass die Entscheidungsträger der Stadt sich endlich einmal dazu aufraffen könnten, die Ruine abzureißen. Möglichst einen Park oder eine andere Art von niedrigem Gebäudekomplex dort anlegten, damit er endlich etwas mehr Blickfeld bekam.
    Doch wenn er ganz ans Fenster trat und seinen Blick schräg rechts nach oben richtete, konnte er sogar ein Stück einer Baumkrone und einen Zipfel Himmel sehen. Aber Backman hatte trotz allem recht, wenn sie behauptete, dass sein Balkon ein viel geeigneterer Platz für Analysen und Nachdenklichkeiten war. Ein sehr viel geeigneterer.
    Andererseits war es vielleicht kein großes Blickfeld, das nötig war, um Henrik Malmgren zu begreifen. Eher im Gegenteil – die Fähigkeit, sich in ein äußerst enges Gebiet zu drängen, eine Art eingeschrumpftes oder sogar umgedrehtes Universum. Warum nicht so ein Brunnen, wie Ulrika Hearst ihn beschrieben hatte? Aber es ist schon klar, dachte Barbarotti, wenn man sein Weltbild aus so wenigen Bauklötzen aufgebaut hatte, dann war man wahrscheinlich darauf bedacht, dass alle an Ort und Stelle blieben. Wenn ein so großer Klotz wie der Bruder oder die Ehefrau verschwanden, bestand natürlich ein großes Risiko, dass das ganze Gebäude zusammenbrach.
    War es möglich, ihn in solchen Termini zu begreifen? Astor Nilsson hatte gesagt, dass er in Philosophenkreisen einen ziemlich großen Namen hatte. Große Philosophen haben
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher