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Eine ehrbare Familie

Titel: Eine ehrbare Familie
Autoren: John Gardener
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wieder in seinen früheren Lebenswandel (den er sogar während der Ehe nie ganz aufgegeben hatte) zurückfallen würde. Sie wußte, er hatte andere Frauen gehabt, und hatte deswegen bittere Tränen vergossen; überdies hatte sein Trinken ihr große Sorgen bereitet. Doch dann war vor sechzehn Jahren ihr einziges Kind, das Mädchen Mary Anne, zur Welt gekommen, und Charles hatte sich gebessert. Aber nun machte sie sich von neuem Sorgen, denn abgesehen von allem anderen hatte sie am vorangegangenen Abend all ihren Mut zusammengenommen und ihrem Mann gebeichtet, daß sie - nach so langer Zeit - wieder schwanger war. Ein Zustand, der sie nicht sonderlich erfreute. Sie wußte, wie sehr ihr Mann unter der Langeweile seiner Arbeit litt, und hatte all seine wilden Pläne mit angehört, die er während der letzten zwei Wochen wie ein Lied mit unterschiedlichen Refrains wiederholt hatte. Und so hatte sie Angst um ihn, um ihre Tochter und um ihr noch ungeborenes Kind.
    Aber weder sie noch Charles hatten mit dem Bruder des Generals, Onkel Giles, gerechnet. Giles hatte das Problem erkannt, eine Antwort gefunden und gehandelt. Und so hatte Charles die Nachricht bekommen, sich bei Captain Vernon Kell im Kriegsministerium zu melden. Die Anweisung hatte Charles so plötzlich erreicht, daß er nicht einmal die Zeit gehabt hatte, sein Kündigungsschreiben abzugeben.
    Die Tür trug die Aufschrift: MO5 Capt. V. Kell. Charles hatte noch nie von MO5 gehört. Er klopfte an, und eine angenehme Stimme bat ihn einzutreten.
    Vernon Kell saß hinter einem kleinen Schreibtisch in einem bescheidenen Zimmer, das restliche Mobiliar bestand aus einem Tischchen, zwei Stühlen und einem Aktenregal. An den Wänden hingen Landkarten, und auf dem Schreibtisch vor Kell stapelten sich Broschüren. Kell sah wie ein typischer Offizier aus: Schnurrbart und kantiges Gesicht, aber sein Ausdruck war freimütig und freundlich. Als er sich erhob, bemerkte Charles, daß Kell einen Augenblick lang die Schultern sinken ließ, sie allerdings sogleich wieder hob, aber mit sichtbarer Anstrengung. Auch schien ihm das Luftholen Mühe zu machen.
    «Sie sind Railton, nicht wahr?» Er sprach stockend. «Entschuldigen Sie», er klopfte sich auf die Brust. «Geht gleich vorbei. Asthma. Verdammt lästig. Hatte es als Kind, ist wiedergekommen. Geben Sie mir eine Minute Zeit.»
    Charles nickte, setzte sich auf einen der Stühle und wartete, bis Kell wieder normal atmete. Seine Gesundheit schien sehr angegriffen für einen Mann, der nach Charles’ Schätzung ungefähr so wie er selbst Ende Dreißig war.
    «Tut mir aufrichtig leid», sagte Kell nach einer Weile, und sein Gesicht bekam wieder Farbe. «Ich hätte zu Hause bleiben sollen, hatte einen Anfall während des Wochenendes. Habe Qualen gelitten als Kind, dachte, ich hätte es überstanden, als ich auf die Kadettenschule ging, aber es ist wiedergekommen.» Er lächelte und sah Charles kurz und prüfend an. Doch Charles hatte den Eindruck, daß er ihm mit diesem einen kurzen Blick fast bis in die Seele gesehen, die geheimsten Winkel seines Verstandes erforscht und sich ein Urteil gebildet hatte.
    «Was haben Sie denn so getrieben in letzter Zeit? Keiner hat Ihnen vermutlich gesagt, was Sie hier sollen? Hab ich recht?» Kell hatte eine natürliche, ungezwungene Art, sich zu geben, er war gar nicht «aufgeblasen», wie es der General genannt hatte. Der General verabscheute «Aufgeblasenheit».
    «Ich war ein besserer Laufbote zwischen dem Foreign Office und der Admiralität, die Antwort auf Ihre zweite Frage ist .» Er hielt Kells Blick stand und sagte in einem neutralen Tonfall, daß er vorhabe zu kündigen.
    Kell räusperte sich. «Diplomatie liegt Ihnen wohl nicht, hm? Hätten wahrscheinlich in die Fußstapfen Ihres Vaters treten sollen. Übrigens mein herzlichstes Beileid, Charles - wenn ich Sie Charles nennen darf.»
    «Natürlich.»
    «Gut, mein Name ist Vernon. Ich sollte eigentlich Stabsoffizier sein, wäre es auch, wenn ich nicht dieses verdammte Asthma hätte. Erst haben sie mich an einen Schreibtisch angenagelt und dann mir diesen Job aufgehalst, mir und Sprogitt - mein Assistent.» Er machte eine Kopfbewegung in Richtung auf eine Tür in der Ecke. «Sprogitt sitzt dort in einem Zimmer, das man nur als Besenkammer bezeichnen kann. Er und ich sind die zwei einzigen hier, deshalb halte ich Ausschau nach jemand, der mir helfen kann. Typisch, nicht? Erst machen sie mich zum Chef von MO5, und dann geben sie mir kein
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