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Ein Tag wie ein Leben

Ein Tag wie ein Leben

Titel: Ein Tag wie ein Leben
Autoren: Nicholas Sparks
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Fortschreiten der Krankheit mitzuerleben,
ist für alle Beteiligten sehr beklemmend. Die Tragödie nimmt unaufhaltsam ihren Lauf, man fühlt sich wie in einem todtraurigen Film,
der in Zeitlupe abläuft. Jane und mir ist es nicht immer leicht gefallen, Allie zu besuchen. Am liebsten hätte Jane ihre Mutter so in Erinnerung behalten, wie sie vor der Krankheit gewesen war. Ich habe
sie zu diesen Besuchen nie gedrängt, denn auch für mich waren sie
sehr schmerzlich. Am meisten gelitten hat jedoch zweifellos Noah.
    Doch das ist eine andere Geschichte.
Ich ging nun hinunter in den Park. Es war ein kühler Morgen, für
die Jahreszeit fast etwas zu frisch. Die bunten Blätter leuchteten im
Sonnenlicht, in der Luft lag ein leichter Kaminfeuergeruch. Den
Herbst hatte Allie ganz besonders geliebt, das wusste ich. Als ich
näher kam, spürte ich fast physisch die Einsamkeit, die Noah umgab.
Wie immer war er dabei, den Schwan zu füttern. Ich hatte eine Einkaufstüte dabei, in der sich drei Packungen Wonderbread befanden.
Noah bestand darauf, dass ich ihm jedes Mal, wenn ich ihn besuchte,
diese Sorte Toastbrot mitbrachte. Leise stellte ich die Einkaufstüte
neben ihm auf den Boden.
»Guten Morgen, Noah.« Selbstverständlich hätte ich ihn auch
»Dad« nennen können, wie Jane es bei meinem Vater getan hatte,
aber irgendwie brachte ich diese Anrede nicht über die Lippen, und
Noah schien das nicht weiter zu stören.
Beim Klang meiner Stimme drehte er sich zu mir um.
»Oh, hallo, Wilson«, sagte er. »Wie nett, dass du mich besuchen
kommst.«
Ich legte ihm die Hand auf die Schulter. »Wie geht’s denn so?«
»Könnte besser sein«, brummelte er und fügte dann mit einem verschmitzten Grinsen hinzu: »Könnte aber auch wesentlich schlechter
sein.«
Das waren die Standardsätze, die wir nach der Begrüßung immer
austauschten. Er klopfte auf den Platz neben sich, und ich setzte mich
zu ihm auf die Bank. Versonnen schaute ich hinaus aufs Wasser: Wie
bei einem Kaleidoskop bildeten die schwimmenden Herbstblätter
immer neue Muster. In der glatten Oberfläche hingegen spiegelte
sich der wolkenlose Himmel.
»Ich muss dich etwas fragen«, begann ich.
»Ja?« Noah rupfte ein Stück Brot ab und warf es ins Wasser. Der
Schwan senkte den Kopf, schnappte sich das Brot und richtete sich
dann wieder auf, um zu schlucken.
»Es ist wegen Jane«, fügte ich hinzu.
»Wegen Jane«, wiederholte er. »Wie geht es ihr?«
»Gut.« Ich nickte und rückte verlegen ein Stückchen von ihm weg.
»Sie kommt später auch vorbei, glaube ich.« Das stimmte. Seit Jahren besuchten wir Noah fast jeden Tag, manchmal gemeinsam,
manchmal getrennt. Ich hätte für mein Leben gern erfahren, ob Vater
und Tochter in meiner Abwesenheit manchmal über mich redeten.
»Und wie geht’s den Kindern?«
»Auch gut, glaube ich. Anna schreibt inzwischen längere Artikel,
und Joseph hat endlich eine neue Wohnung gefunden. In Queens,
aber ganz in der Nähe einer U-Bahn-Station. Leslie fährt am Wochenende mit Freunden in die Berge, um zu zelten. Sie hat erzählt,
ihre Zwischenklausuren seien hervorragend ausgefallen.«
Noah nickte nachdenklich. Die ganze Zeit hatte er wie gebannt auf
den Schwan geschaut. »Du hast großes Glück, Wilson«, sagte er.
»Ich hoffe, dir ist bewusst, wie glücklich du dich preisen kannst, dass
sie sich alle drei so wunderbar entwickelt haben.«
»Ja, dafür bin ich sehr, sehr dankbar - und ich nehme es keineswegs
als selbstverständlich hin.«
Wir schwiegen beide. Aus der Nähe konnte man sehen, wie tief
sich die Falten in Noahs Gesicht eingegraben hatten, und unter der
hauchdünnen Pergamenthaut seines Handrückens traten die pulsierenden Adern hervor. Der Park war menschenleer. Bei der kühlen
Witterung hielten sich die Leute lieber im Haus auf.
»Ich habe unseren Hochzeitstag vergessen«, sagte ich.
»Ach, ja?«
»Neunundzwanzig Jahre.«
»Hmm.«
Hinter uns raschelten die Blätter im Herbstwind.
»Ich mache mir Sorgen um uns - um unsere Ehe«, gestand ich seufzend.
Noah schaute mich an. Eigentlich erwartete ich, er würde mich fragen, wie mir so etwas passieren konnte, aber er kniff nur prüfend die
Augen zusammen, als versuche er, meine Gedanken zu lesen. Dann
nickte er und warf dem Schwan ein neues Stück Brot zu. Endlich
begann er zu reden, mit seiner warmen, weichen Baritonstimme, der
Tonfall geprägt von dem unaufdringlichen, aber nicht zu überhörenden Singsang der Südstaaten.
»Erinnerst du dich, wie es
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