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Ein Tag im Maerz

Ein Tag im Maerz

Titel: Ein Tag im Maerz
Autoren: Jessica Thompson
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vorlegen müssen, und ihre Handtasche war durchsucht worden.
    »Er ist in keiner guten Verfassung«, hatte die Wärterin zu ihr gesagt.
    »Wieso?«
    »Sein Freund ist gestorben. Das ist noch nicht lange her. Ich glaube, er braucht Kontakt. Für ihn ist das sehr wichtig.«
    Bryony war überrascht gewesen, wie sehr sie sich interessierte; sie hatte immer angenommen, Strafgefangene wurden mit kalter Verachtung behandelt, ihre Empfindungen abgeschrieben wie die Leben, die sie durch ihre Taten zerstörten.
    Bryony hatte Angst, was sein Anblick bei ihr anrichten würde. Würde sie versuchen, ihn anzugreifen? Würde sie ihn zusammenschreien? Würde die Begegnung sie in den Wahnsinn treiben? Im Augenblick fühlte es sich an, als bestimme dieser Moment über Wohl oder Wehe, und die Aussicht, noch mehr zu verlieren, als sie schon verloren hatte, war unmöglich zu ertragen.
    Die Briefe hatten ihr Herz auf eine Art erreicht, die sie niemals für möglich gehalten hätte. Sie wurde den Gedanken nicht los, dass sie dazu bestimmt war, zu ihm zu gehen und mit ihm zu sprechen. Dass alle Ereignisse in letzter Zeit zusammengearbeitet und sie aus einem bestimmten Grund an diesen Punkt geführt hatten.
    Sie war sich nicht sicher, wieso, oder was sie sagen würde.
    Vor ihr war eine große Glasscheibe; sie sah darin ihr Spiegelbild, wenn sie nur genau genug hinblickte. An der Scheibe war kein Schmutz oder Fingerabdruck oder eine andere Spur, die verriet, dass sie bei einer anderen Begegnung schon benutzt worden war. Nichts zeugte von den Menschen, die vor ihr hier gesessen hatten und deren Fingerabdrücke vielleicht auf einer Fläche zurückgeblieben waren, die die wirkliche Welt von jener der Häftlinge trennte.
    War es richtig? Tat sie das Richtige? Bryony saß auf einem harten Plastikstuhl, aber ihre Beine zuckten. Sie konnte jetzt noch gehen. Davonlaufen. Dann jedoch öffnete sich eine Tür am anderen Ende des Raumes, und plötzlich überkam Bryony eine Welle der Gelassenheit. Ihr Herzschlag verlangsamte sich, als er von zwei großen Justizvollzugsbeamten hereingeführt wurde.
    Da war er. Keon Hendry. Der Mann, der   …
    Er war ziemlich groß und jung. So viel jünger, als Bryony es sich vorgestellt hatte. Seine Haut war von einem schönen Braun, und in seinen Zügen lag eine gewisse würdevolle Ehrlichkeit, die es ihr schwer machte zu glauben, er könnte zu solch einer Tat fähig sein.
    Sie hatte ihn sich ganz anders vorgestellt. Er hatte weder die schwere Knochenstruktur, die sie sich ausgemalt hatte, noch Narben über der Oberlippe als Andenken an einen hässlichen Kampf. Er trug auch kein Tattoo auf der Stirn, das » E. V.   I.   L. « lautete oder so etwas. Für Bryony war es ein richtiger Schock.
    Mit völlig ausdruckslosem Gesicht beobachtete sie, wie er auf seinen Stuhl zuging. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Er lebte. Ihm strömte Blut durch die Adern. Er konnte sehen, auch wenn seine Augen nur die Trümmer von allem rings um ihn erblickten.
    Keon konnte ihr nicht in die Augen sehen. Er wirkte verängstigt. Erschöpft.
    Langsam setzte er sich und hielt den Blick auf den hellblauen Linoleumboden gerichtet. Sein Haar war kurzgeschnitten, an den Seiten fast rasiert. Er sah schlank aus, aber zugleich breitschultrig, als wachse er immer weiter, und bald wäre sein eigener Leib zu klein für ihn, und das Gefängnis, in dem er festsaß, ebenfalls.
    Bryonys Herz schlug noch immer ganz langsam. Sie fuhr mit den Fingern der rechten über die weiche Haut auf der Fläche der linken Hand, eine Beruhigungstechnik, von der sie vor Jahren gelesen hatte, ohne sie bisher je angewendet zu haben. Einen Augenblick lang sann sie darüber nach, wie seltsam es war, dass solche Dinge irgendwo in den Tiefen des Gehirns gelagert wurden, bis man sie in einer Notlage wie dieser benötigte. Sie trug den Ring. Er gab ihr Sicherheit.
    »Keon«, flüsterte sie und schob das Gesicht näher an die Glasscheibe. Um ihn zu mustern. Um zu versuchen, ihn zu verstehen. Um auszuloten, wieso dieser junge Mann überhaupt je hierhergelangen musste. Sie fragte sich, was ihn zu jenem Moment gebracht hatte, vom Augenblick seiner Geburt bis zu dem Sekundenbruchteil, an dem sein Finger den Abzug berührte. Sein Brief hatte einiges erklärt, doch für sie ergab es noch immer keinen Sinn.
    »Ja«, sagte er, den Blick noch immer gesenkt. Um jeden Preis wollte er vermeiden, ihr in die Augen zu sehen, aus Furcht, was er dort entdecken mochte.
    »Sehen Sie mich bitte
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