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Ein Tag im Jahr im neuen Jahrhundert (German Edition)

Ein Tag im Jahr im neuen Jahrhundert (German Edition)

Titel: Ein Tag im Jahr im neuen Jahrhundert (German Edition)
Autoren: Christa Wolf
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fühlen, ich versuche eine ausgewogene Antwort – aber wie sieht die jetzt eigentlich aus? Soll man gegen vollzogene Tatsachen anreden? Soll man die alten Defizite aufwärmen? – Der Botschafter sagt, im Ausland sehe man die Wiedervereinigungals Erfolgsgeschichte, und erzählt von den Schwierigkeiten, die sie in Spanien haben: Die Krise hat sie sehr getroffen, zwanzig Prozent Arbeitslose (während bei uns der Arbeitsmarkt angeblich »boomt« – allerdings sehr viel Zeitarbeiter, Kurzarbeiter usw.). Die Spanier seien allerdings optimistischer als die Deutschen. – Er lebe sehr gern in Berlin, das sei eine interessante, lebendige Stadt (das finde ich allerdings auch, bloß daß ich mir die Lebendigkeit fast nur von innen ansehe).
    Wir tauschen noch Bücher aus, der Botschafter verabschiedet sich. Wir essen Gemüsepfanne und Reis, legen uns hin, das ist gegen zwei Uhr. Ich wieder in den Erinnerungen von Markus Wolf. Er bringt als Beleg dafür, daß Geheimdienste das »zweitälteste Gewerbe der Welt« sind, Beweise aus der Bibel. Erzählt Einzelfälle, nicht ohne Anteilnahme, auch Fälle von Überläufern. Ich habe allmählich genug davon, schlafe, mittags immer sehr müde.
    Nach vier – so lange bleiben wir meistens liegen – Tee und ein Streifchen Kirschkuchen. Anstatt an diesem Text weiterzuschreiben, bleibe ich beim Fernsehen hocken – das geschieht allzuoft. (Manchmal denke ich: Was hätte ich in all den zahllosen Stunden, die ich vor dem Fernseher verbracht habe, alles tun können!) Dabei fühle ich mich ganz wohl, ich habe das Gefühl, der Tag klingt aus, dabei hellt sich auch meine Mißstimmung oder Depression etwas auf. Ich bin nicht mehr so scharf darauf, den ganzen Tag über rastlos tätig zu sein. Oft taucht, als Entschuldigung, die Zahl meiner Lebensjahre vor mir auf, und was die Töchter sagen, wenn ich klage, ich sei faul: Du kannst es dir jetzt wirklich leisten, endlich mal nicht so tätig zu sein. Nun ja.
    Wir zappen also im Nachmittagsprogramm der Sender herum, bis endlich um achtzehn Uhr »Soko 5113« kommtund dann, auf dem anderen Sender, »Großstadtrevier«. Man kennt das Personal, aber ich wüßte keinen einzigen der vielen Fälle zu benennen, die ich gesehen habe. Es ist beschämend.
    Wir essen, Salat, Garnelen, Käse. Gerd versucht immer, auch abends etwas aufzutischen, das nicht »bloß Brot« ist.
    Dann sehen wir auch noch den » TV -Thriller« »Ein geheimnisvoller Sommer«, eine konstruierte Geschichte, in der Suzanne von Borsody die Hauptrolle spielt, aber auch nur immer dasselbe betroffene Gesicht machen kann.
    Auf allen Kanälen diskutieren sie über den Beschluß der Koalition, Hartz IV nur um fünf Euro zu erhöhen. Zumeist geht es an den wirklichen Problemen vorbei und beißt sich an dieser Zahl fest.
    Spät berichtet noch in einem Polit-Magazin ein Mann, wie er und seine Familie von der Stasi drangsaliert, praktisch zerstört wurden – zum zwanzigsten Jahrestag der Vereinigung ist Stasi ganz groß im Schwange. Ein Kommentar zu dem Buch von Markus Wolf, in dem ich an diesem Abend endgültig zum letzten Mal lese. Ich muß mich, wie so oft, hoffnungsloser Gedanken fürs große Ganze bewußt entschlagen. Ich denke, wie man dies (aber was?) in ein Schreibstück fassen könnte. Mir fällt nichts ein. Ich wäre nicht untröstlich, wenn ich nicht mehr schreiben würde.

27. September 2011
     
 

 

 
    Schlagzeile Berl. Ztg.: Wowereit wählt grün. Koalition mit nur einer Stimme Mehrheit im Abgeordnetenhaus.
    Nachts um 3 wach aus Traum heraus: Vor mir liegen drei Tote, alles Ausländer, eine davon bin ich, bin unkenntlich. Habe das Gefühl, daß mir in die Schläfe geschossen wurde. Knüpft an etwas an, was ich vorher gehört oder gelesen habe. Muß mich jedesmal erst daran gewöhnen, daß ich im Schlafzimmer allein bin, das zweite Bett fehlt.
    Ich lese ein paar Seiten in dem Buch über die Beziehung von [Estela Canto] zu Borges, das mir Ellen geschickt hat. Wußte nicht, daß B. unfruchtbar war – aus psychischen Gründen, nicht zuletzt durch die Übermacht der Mutter.
    Lege mich zum Schlafen zurecht, das erfordert Zeit und Strategie, seit ich aus dem Krankenhaus bin. Es gibt eine Lage, in der ich keine Schmerzen habe. Entschließe mich, noch nicht auf den Toilettenstuhl zu gehen, was ich dann eine Stunde später, kurz vor 5, doch tun muß – eine heikle Operation. Nehme die 2. halbe Stilnox. Kann schlafen bis beinahe gegen 8.
    Nun schon über 2 Wochen dieses Leben
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