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Ein Tag im Jahr im neuen Jahrhundert (German Edition)

Ein Tag im Jahr im neuen Jahrhundert (German Edition)

Titel: Ein Tag im Jahr im neuen Jahrhundert (German Edition)
Autoren: Christa Wolf
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auf einmal still.) Öfter sind es zu meiner Verwunderung Kirchenlieder, die in mir singen. Diesmal, als ich hinhöre: So nimm denn meine Hände … Meistens merke ich es nicht, und zum Glück stört es mich nicht, weil es sehr leise ist. Aber ich bin nun angestoßen worden, darauf zu achten.
    Ich lese noch ein Weilchen in einer sehr umfangreichen Robert-Oppenheimer-Biographie von Kai Bird und Martin J. Sherwin, die stark herausarbeiten, wie Oppenheimer, der »Vater der Atombombe«, Anfang der fünfziger Jahre in den USA , als er, entsetzt von den Folgen seiner Schöpfung, die Produktion und den Einsatz dieser Waffe einschränken will, unter unsäglichen Beschuß der Republikaner wegen seiner angeblichen kommunistischen Vergangenheit gerät, was für demütigenden Verhören er unterzogen wurde, welchen Repressalien er ausgesetzt war und daß er danach ein »gebrochener Mann« war. Wie immer in solchen Fällen überfällt mich eine Depression und Mutlosigkeit – gegen diese Art Niedertracht und Dummheit ist nichts zu machen.
    Mitten in der Nacht nehme ich eine Baldrian-Tablette, lese in dem sehr gut gemachten Katalog über den Aufbau des Berliner Schlosses – das nicht gerade ein Lieblingsobjekt von mir ist – und schlafe doch tatsächlich ohne schärfere Schlaftablette noch mal ein.
    Ich habe einen unglaublichen langen Traum, der in einem Luxushotel spielt und eine veritable Romanhandlung vorführt – mit großem Essen, Ausschließung einer (meiner) Person, mit Intrigen und Verletzungen, Zusammenbrüchen und Treffen alter Bekannter, darunter sind Schriftsteller, die ich allerdings nicht kenne. Mir ist, als habe ich noch niemals so geträumt. Als ich erwache, erzähle ich mir soviel wie möglich von den verwickelten Handlungen, die aber doch allmählich vergehen.
    Ich stehe erst nach neun Uhr auf.

Montag, 27. September 2010

Berlin
     
 
    Um Mitternacht endete im Fernsehen die Sendung »Druckfrisch« mit Denis Scheck. Er nahm sich den Titel »Deutschland schafft sich ab« von Thilo Sarrazin vor, der in den letzten zwei Wochen in unvorstellbarer Weise durch die Medien und auch durch die Politikveranstaltungen gejagt wurde und es doch tatsächlich beinahe auf Anhieb auf Platz eins der Bestsellerliste geschafft hat. Scheck empörte sich darüber, daß die Bundeskanzlerin das Buch schon verworfen hatte, ehe sie es gelesen hatte, daß der Bundespräsident (Wulff) die Bundesbank, den Arbeitgeber von Sarrazin, sozusagen aufgefordert hat, ihn zu entlassen, um dann dieser Entlassung selbst hastig zuzustimmen. Genau erfuhr man nicht, ob Scheck selber das Buch eher ablehnt oder es eher gelten läßt wegen seiner angeblich zutreffenden Schilderung der Verhältnisse unter Asylbewerbern, und es kritisiert – wie fast alle – wegen der Behauptung, daß viele der Asylbewerber aus genetischen Gründen nicht bildungsfähig seien. Jedenfalls scheint ein großer Teil der Bevölkerung der Meinung zu sein, daß die Immigranten, besonders die Muslime, uns nur ausnehmen wollten und schärfer angefaßt werden müßten.
    Froh wie immer, ins Bett zu kommen: Mich hinlegen können gehört zu den genußvollsten Augenblicken des Tages. Ich bin auch immer sehr müde und schlafe zwischendurch ein, zum Beispiel abends, selbst beim Krimi …
    Ich lese augenblicklich die Autobiographie von MarkusWolf, teilweise sehr anteilnehmend. Vieles ist einfach sachlich interessant, zum Beispiel die merkwürdige Wackelhaltung von Herbert Wehner, die man sich nur dadurch erklären kann, daß Wehner, in seinem Kern vielleicht noch nicht ganz vom Kommunismus abgenabelt, in der Nachkriegspolitik des Westens eine erneute Kriegsgefahr witterte, der man dadurch begegnen müsse, daß man den Osten informiere. – Auch interessant: Daß Otto John tatsächlich entführt wurde, aber nicht von der Staatssicherheit, sondern vom KGB , mit dem sein Freund, ein Arzt, mit dem er den Abend verbrachte, zusammenarbeitete.
    Gestern abend las ich die Abschnitte über den Bau der Mauer, die nicht Ulbrichts Idee war, sondern Chruschtschows Anordnung, der angesichts der Massenflucht aus der DDR Angst hatte, daß dieser Staat zusammenbrechen und seine Westflanke dadurch angreifbar werden würde. Und die Führer der westlichen Welt sollen erleichtert gewesen sein, daß durch die Grenzsicherung der DDR ein Schwachpunkt in der europäischen Friedenssicherung entfallen sei. – Wolf und sein »Dienst« waren genauso überrascht vom Mauerbau wie wir alle, und er schildert die
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