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Ein Stern fliegt vorbei

Ein Stern fliegt vorbei

Titel: Ein Stern fliegt vorbei
Autoren: Karl-Heinz Tuschel
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also keine Vorwürfe wegen übermäßiger Ausdehnung der Arbeitszeit zu fürchten. Die Chefin hatte freilich nur zögernd zugestimmt, aber sie hatte zugestimmt – und es war ihr auch gar nichts anderes übriggeblieben. Der Leiter der Modellabteilung hatte ein Dutzend wichtiger Projekte auf dem Halse gehabt, der Erste Assistent war im Urlaub gewesen – sie aber, Yvonne, Zweiter Assistent, war dagewesen und hatte zudem gerade an jenem Tage eine Aufgabe abgeschlossen.
    Als sie dann die Speicher mit den aufgenommenen Funksignalen aus dem All in der Hand gehalten hatte, war ihr plötzlich klargeworden, daß dies ihr erster wirklich erregender Auftrag war, seit sie vor anderthalb Jahren den ausgeschriebenen Wettbewerb gewonnen und damit diese Aufgabe bei der Weltsicherheitskommission erhalten hatte.
    Das mathematische Modellieren von allen möglichen Projekten war ihr – so großartig diese Projekte an sich auch sein mochten – bald zum Alltäglichen geworden. Es war eine gute Schule, gewiß, man drang dabei in die verschiedensten Wissensgebiete ein, und was könnte sich eine junge Kybernetikerin Besseres wünschen. Aber die schöpferische Ungeduld, die sie verspürte und die immer etwas von einer Sehnsucht an sich hat, war damit nicht gestillt. Sie empfand ihre Arbeit als Vorbereitung, nur daß sie nicht wußte, worauf.
    Und nun diese Aufgabe, die zwar keine mathematischen Probleme bot, die sich aber mit allen Kräften einer Lösung widersetzte!
    Yvonne betrat ihr Arbeitszimmer. Das Diktiergerät stand noch betriebsfertig da, wie sie es in der Nacht verlassen hatte. Sie schaltete den Strom ein, nahm Fernschalter und Mikrofon und kauerte sich in eine Ecke der Couch, mit angezogenen Beinen, das Kinn auf die Knie gestützt.
    In der Nacht hatte sie auf Band gesprochen, was sie heute den beiden Spezialisten berichten sollte, die die Weltraumbehörde zur Unterstützung auf die Erde sandte. Sie ließ das Band noch einmal ablaufen und lauschte mit ausdruckslosem Gesicht ihrer eigenen Stimme – sie gehörte zu den Menschen, bei denen sich im Augenblick höchster Konzentration der Geist von der Oberfläche des Gesichts zurückzieht und die darum in solchen Momenten fast dümmlich aussehen. Sie wußte das nicht, denn sie hatte sich dabei ja noch nicht beobachten können, aber selbst wenn sie es gewußt hätte, wäre es ihr vermutlich gleichgültig gewesen.
    An einigen Stellen unterbrach sie, fügte einige Sätze hinzu oder löschte etwas. Dann ließ sie alles noch einmal ablaufen, erhob sich darauf seufzend aus ihrer unbequemen Kauerstellung, ging zum Gerät, drückte die Schreibtaste und schritt, im Gehen sich reckend, zum Fenster.
    Der Himmel war finster geworden. Ein Gewitter zog auf. Das Städtchen lag regungslos vor ihren Blicken. Nur in der Ferne, auf dem Turm des Raketenflugplatzes, drehten sich die Leitantennen. Ach ja, der Besuch! Die beiden Kosmonauten waren jetzt offenbar vom Kosmodrom SAHARA gestartet, und die Funkleitstelle auf dem Flugplatz hatte sie übernommen. Also würden sie bald hier sein.
    Yvonne drehte sich um, entnahm dem Diktiergerät den fertig geschriebenen Text und setzte sich an ihren Schreibtisch. Einen Augenblick lang zögerte sie, dann drückte sie eine Taste der Sprechanlage.
    Eine Männerstimme meldete sich: „Sekretariat des Chefs.“
    „Ich muß die Chefin sprechen“, sagte Yvonne.
    „Bedaure – Nadja Iwanowna bereitet sich auf den Empfang der Gäste vor und möchte nicht gestört werden.“
    „Dringend“, sagte Yvonne ohne Bedenken – ein Zauberwort, das in der Kommission jede Verbindung herstellte, mit dem aber ebendeshalb sehr sparsam umgegangen wurde. Sie hatte genausoviel Achtung vor der Chefin wie die anderen, aber keinen Respekt, wo er nicht angebracht war.
    „Also gut“, sagte der Sekretär nach einer kleinen Pause, und kurz darauf meldete sich eine angenehme Frauenstimme: „Ja, bitte?“
    „Yvonne Tullier. Kann ich zu Ihnen kommen? Ich brauche eine Gedankenwäsche.“
    Einen Augenblick war Stille. Dann sagte die Stimme: „Ja, gut. Kommen Sie gleich!“
    Yvonne nahm ihr Manuskript und ging hinaus.
     
    Aus einem fraulichen, aber doch energischen Gesicht schauten zwei sanfte braune Augen – das war Nadja Iwanowna Shelesnowa, Chef der Weltsicherheitskommission, etwa vierzigjährig, nicht sehr groß, dunkelhaarig, breit in den Schultern.
    Yvonne hatte es schon oft erlebt, daß diese braunen Augen plötzlich gar nicht mehr sanft aussahen, sondern Zorn ausstrahlten, wenn das
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