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Ein Sonntag auf dem Lande

Ein Sonntag auf dem Lande

Titel: Ein Sonntag auf dem Lande
Autoren: Pierre Bost
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Körperpartien. Nun kümmert er sich nur mehr um sein Herz.
    Genug von der Nacktheit eines alten Mannes. Das Gesicht taugt mehr. Nicht, dass es sehr bemerkenswert wäre, aber es missfällt nicht. Man sieht darin zuerst und vor allem einen weißen, aufgefächerten Bart, der aus aufgerichteten Rosshaaren besteht, hart und dicht wie eine Bürste, und der den ganzen unteren Teil seines Gesichts einnimmt. Im Ruhezustand erkennt man den Mund nicht, und wenn Monsieur Ladmiral redet, sieht man seine fleischigen roten Lippen ans Tageslicht kommen und sich sehr schnell bewegen, inmitten dieses weißen Gebüschs, wie ein kleines Weichtier, das plötzlich durch das Licht aufgeschreckt wird. Dazu zwei kleine, schwarze tief liegende Augen – man muss Monsieur Ladmiral gut kennen, um mitzubekommen, dass seine Augen ganz starr blicken. Sie sind so stechend, durchdringend und so mit Blicken aufgeladen, dass man sie zuerst für unruhig und lebhaft hält. Sein leuchtendes Gesicht ist rege und schießt Pfeile ab, manchmal wirkt es fast verrückt. Dazu der runde Kopf, die hervorspringenden Wangenknochen, und über dem Ganzen die weißen, strubbeligen Haare, die sich so prächtig wie eine Krone um den Schädel legen, dass Monsieur Ladmiral von vorne betrachtet eine schöne Mähne hat, hinten aber erstaunlicherweise kahl ist.
    Nun hat Monsieur Ladmiral seine Toilette beendet und sich angekleidet. Seit mehr als fünfzig Jahren trägt er, an Wochen- wie an Sonntagen, den gleichen schwarzgerippten Samtanzug, eine Pluderhose, eine bis zum Hals zugeknöpfte Joppe, an der eine Künstlerschleife baumelt. Gleich, wenn Monsieur Ladmiral zum Bahnhof aufbrechen und seinen schwarzen Leinenhut, dessen kleine Ränder wie Regenrinnen hochgezogen sind, aufsetzen wird, sieht er durch und durch jenem ähnlich, der er gewesen ist und immer noch ist, das heißt, er sieht aus wie jemand, den man um 1890 einen Maler nannte.
    Das sehr diskret angebrachte, aber herrlich sichtbare Band der Ehrenlegion bezeugte, dass Monsieur Ladmiral sogar das gewesen war, was man einen bekannten, beinahe berühmten Maler nennt. Immerhin hatte er offizielle Ehrungen erhalten, das stimmte.
    Urbain Ladmiral, Prix-de-Rome-Träger, Mitglied des Institut de France, hatte die höchsten Preisgelder beim Salon de Peinture erhalten, Porträts zahlreicher hochrangiger Persönlichkeiten gemalt und wichtige Staatsaufträge bekommen, ohne dass es notwendig gewesen wäre, seine Beziehungen spielen zu lassen, die in dieser Zeit jedoch zahlreich und nützlich waren. Aber die wahrhaft nützlichen Beziehungen sind jene, die man nicht spielen lassen muss, sondern die von ganz allein wirken.
    Monsieur Ladmiral anerkannte bereitwillig, dass er niemals Genialität besessen hatte. Diese angedeutete Bescheidenheit, zur Schau getragen von einem Mann, der sich selbst weit höher als seinen Wert einschätzte, hatte ihn, wie es immer geschieht, als einen großen bescheidenen Mann erscheinen lassen und war ihm eine reiche Quelle von Ehrungen, Vorteilen und Stolz gewesen. So wurde Monsieur Ladmirals Eitelkeit, die ihm seine Karriere verschaffte, zusätzlich befriedigt, und es war dieser Stolz, der es ihm erlaubte, ein glückliches Leben zu führen. Nicht zuletzt, weil er die Malerei verehrte und genug Geschmack besessen hatte, die seinige nicht zu sehr zu lieben. Oft hatte er seinem Sohn und seiner Tochter erklärt, was das Drama seines Lebens hätte sein können, wenn er Dramen nicht verabscheut hätte. Und das klang noch nicht einmal wie ein Bedauern.
    »Ich hatte einen Fehler«, sagte er. »Mir mangelte es an Mut. Aber davon abgesehen, war es nicht nur meine Schuld, wenn ich nicht bessere Bilder gemalt habe. Was wollt ihr? Ich habe gemalt, wie man zu meiner Zeit gemalt hat, wie man es mir beigebracht hat. Ich habe an meine Lehrmeister geglaubt; man hatte uns dermaßen die Tradition, die Regeln, die Vorfahren und die Werktreue eingetrichtert. Die wahre Freiheit setze zuerst den Gehorsam voraus, hieß es, und die wahre Persönlichkeit liege in der Disziplin, und das ganze Zeug. Ich glaubte daran und fand das gut. Und da ich sehr begabt war, kam dann in dem Maße, wie ich lernte, imitierte und zuhörte, das Handwerk ins Spiel, und mir wurde eines schönen Tages bewusst, dass es den ganzen Platz eingenommen hatte. Diese berühmte Originalität, die am Ende den belohnen muss, der sich zuerst den Regeln unterzuordnen wusste, die sah ich immer noch nicht kommen. Ich war in die Falle gegangen, und wie! Oder aber
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