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Ein Sonntag auf dem Lande

Ein Sonntag auf dem Lande

Titel: Ein Sonntag auf dem Lande
Autoren: Pierre Bost
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Bäder für einen Luxus gehalten hatte, und er konnte feststellen, dass ihn das nicht daran gehindert hatte, ein beachtliches Alter zu erreichen, ohne sich schlechter und vor allem schmutziger als andere zu fühlen. Er verzichtete auf Wannenbäder, so selbstverständlich, wie er seit Jahr und Tag einen Bart trug.
    Als Monsieur Ladmiral von der Küche, aus der ihn Mercédès vertrieben hatte, wieder nach oben gegangen war, begann er damit, seine Schuhe auszuziehen. Um sie einzuwachsen, zog er sie jeden Morgen über die nackten Füße. Danach streifte er sie wieder ab und steckte sie auf Schuhspanner, während er seine Morgentoilette machte. Seine Kinder machten sich über diese Macke lustig, aber er hatte leichtes Spiel, wenn er ihnen antwortete, dass jeder seine Macken habe, es ziemlich spät sei, das zu ändern, ihre arme Mutter es aufgegeben hatte, ihn von dieser Angewohnheit heilen zu wollen, und die arme Frau selbst darunter dreißig Jahre lang gelitten habe. Überdies müsse man gerecht sein und erwähnen, dass sie wiederum die Marotte hatte, beim Frühstück vor dem Kaffee die Milch in ihre Tasse zu gießen – eine Angewohnheit, die man ihr im Internat beigebracht hatte und von der sie sich nie hatte freimachen können (oder wollen?). Ihn machte das krank. Man kann nicht erklären, warum: Es gibt Dinge, über die man nie hinwegkommt. An manchen Tagen richtete er es so ein, nicht mit seiner Frau zu frühstücken, um das nicht mitansehen zu müssen.
    »Was belegt«, sagte Monsieur Ladmiral, »dass man immer miteinander auskommen kann, wenn es sich um kleine Dinge handelt. Wenn die Leute das nicht begreifen, ist es, weil sie nicht verstehen, in großen Dimensionen zu denken.«
    Monsieur Ladmiral führte gegenüber seinen Kindern gern Beispiele solcher Art an. Seinen zwei Kindern. Noch ein Problem … Man fand immer Lösungen für die Probleme, ärgerlich war, dass man sich ihnen stellen musste … Seine beiden Kinder … Ohne sich zu sehr damit zu quälen, war Monsieur Ladmiral dennoch daraufgekommen, sich zu fragen, ob sein Sohn Gonzague und seine Tochter Irène einander immer sehr gut verstünden. »Sich verstehen« innerhalb einer Familie war für ihn etwas anderes und mehr als eine Pflicht, es war eine natürliche Aufgabe. Das Gegenteil war kaum denkbar. Um die vollkommene Einheit zwischen Bruder und Schwester nicht in Zweifel ziehen zu müssen, wünschte der alte Vater sie daher mit Gewalt herbei, öffentlich, bei jeder sich bietenden Gelegenheit. Und deshalb führte er gern Beispiele als Belege an, die die Tatsachen ersetzen sollten. Aber er zitierte sie selten vor beiden Kindern, denn sie kamen nicht oft gemeinsam nach Saint-Ange-des-Bois. Ehrlich gesagt, kam Irène so gut wie nie hierher. Ihr letzter Besuch lag zwei Monate zurück … o ja … mindestens, oder sogar noch länger. Kalt war es gewesen; am Abend hatte Irène in ihrem Zimmer ein Feuer gemacht (sie war über Nacht geblieben, was selten geschah). Ja, es war im April, als der Frost plötzlich zurückkam. »Wie dumm bin ich!«, dachte Monsieur Ladmiral. »Sie ist am Ostermontag gekommen! Ja. Vor bald drei Monaten!« Gonzague kam treu und brav jeden Sonntag … oder fast jeden … mit seiner Frau und den drei Kindern. Und immer mit dem Zug um zehn Uhr fünfzig, wie heute Morgen. Monsieur Ladmiral zog eine Spur verärgert die Augenbrauen zusammen, als ob ihm jemand gerade gesagt hätte, dass er noch zu spät zum Bahnhof kommen würde. Und er machte absichtlich keine Anstalten, sich zu beeilen.
    Peinlich genau erledigte Monsieur Ladmiral seine Morgentoilette mit nacktem Oberkörper. Er war mager, was er aber nicht immer gewesen war, sodass seine Haut ein paar Falten warf und zwei schlaffe Brüste, der Schwerkraft gehorchend, an ihm herunterhingen und an jeder Seite wie die Umrisse zweier Boote von weißer Behaarung umspült waren. Seine Schultern waren krumm, die Arme kräftig, und die perlweiße Haut wies einige rostbraune Flecken auf. Jetzt beugt sich Monsieur Ladmiral nach vorne und fixiert mit einem fragenden Blick sein Spiegelbild, während er die Hand flach an seine Hüfte drückt. Dann lächelt er. Er hat sein Herz schlagen hören, weder schnell noch langsam, ganz regelmäßig und genau wie immer an seinem Platz. Jeden Morgen macht Monsieur Ladmiral diese Geste, wie ein Reisender, der sich beim Aufwachen vergewissert, dass er seine Fahrkarte nicht verloren hat. Früher überprüfte Monsieur Ladmiral auf diese Weise mehrere
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