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Ein Rückblick aus dem Jahr 2000

Ein Rückblick aus dem Jahr 2000

Titel: Ein Rückblick aus dem Jahr 2000
Autoren: Edward Bellamy
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einschätzen. Er wird in ihnen die erste und noch zusammen hanglose Phase der großen Bewegung erkennen, wel che schließlich mit der Einführung der modernen Wirtschaftsordnung nebst all ihren sozialen Folgen endete. Bei einem nachträglichen Überblick erscheint dies al les so einfach und klar, daß ein Kind es verstehen könnte. Aber da wir keine Propheten sind, so hatten wir in je nen Tagen keine klare Vorstellung von den kommenden Ereignissen. Wir sahen nur, daß sich das Wirtschaftsleben unseres Landes in einer höchst mißlichen Lage befand. Das Verhältnis zwischen Arbeiter und Unternehmer, zwischen Kapital und Arbeit schien in unerklärlicher Weise aus den Fugen gegangen zu sein.
    Die Arbeiterklasse war ganz plötzlich und allgemein von einer tiefen Unzufriedenheit mit ihrer Lage erfüllt und von der Überzeugung angesteckt worden, daß die se Lage wesentlich verbessert werden könnte, wenn man nur wüßte, wie das Ding anzufassen sei.
    Von allen Seiten wurden einstimmig Forderungen laut nach höherem Lohn, kürzerer Arbeitszeit, besseren Wohnungen, besserer Erziehung sowie einem Anteil an den Annehmlichkeiten des Lebens und der Errungenschaften der Kultur jener Epoche. Lauter Forderungen, deren Erfüllung unmöglich schien, wenn die Gesellschaft nicht um ein Bedeutendes reicher würde, als sie es damals war. Die Arbeiter wußten zwar ungefähr, was sie wollten, allein sie hatten keine Ahnung, wie sie das Gewollte erreichen konnten. Mit freudigem Enthusiasmus scharten sie sich um jeden, der ihnen hierüber irgendeine Aufklärung geben zu können schien. Viele, die sich gern hervortaten, erhielten in der Folge plötzlich einen großen Ruf als Parteiführer, obgleich gar mancher unter ihnen den Arbeitern äußerst wenig Klarheit über ihre Ziele zu bieten imstande war. Man mochte die Bestrebungen der Arbeiter für noch so sinn- und zwecklos halten, eins mußte man anerkennen: die Hingebung, mit der sie einander bei Streiks unterstützten – ihrer Hauptwaffe im Kampfe –, die Op fer, die sie dabei brachten, ließen keinen Zweifel an ihrem tiefen Ernst. Was das schließliche Ende der Arbeiterunruhen anbetrifft – mit diesem Namen pflegte man nämlich meist die von mir beschriebene Bewegung zu bezeichnen –, so gingen darüber die Meinungen der Leute meiner Klasse weit auseinander, je nach ihrem individuellen Temperament. Der Sanguiniker { * } behauptete nachdrücklichst, es sei nach der Natur der Dinge unmöglich, daß die neuen Hoffnungen der Arbeiter sich jemals verwirklichen könnten, und zwar einfach darum, weil die Welt nicht genug Reichtümer und Möglichkeiten habe, sie zufriedenzustellen. Nur wenn die Massen hart arbeiteten und dürftig lebten, verhungerte die Menschheit nicht ganz und gar. Solan ge die Gesellschaft als Ganzes genommen so arm bleibe wie bis dahin, sei keine nennenswerte Verbesserung der Lage der Arbeiter möglich. Diese kämpften nicht gegen die Kapitalisten, sie lehnten sich vielmehr gegen Notwendigkeiten auf, die einem eisernen Gürtel gleich die Menschheit zusammenhielten. Es sei nur eine Fra ge der Zeit, wann die dickköpfige Masse endlich den wahren Sachverhalt erkennen und sich damit zufrieden geben werde, das Unabänderliche zu ertragen.
    Leute von weniger sanguinischem Temperament ge standen die Richtigkeit dieser Ausführungen zu, gin gen aber in ihren Befürchtungen weiter. Gewiß, meinten sie, natürliche Gründe sprächen dagegen, daß sich die Bestrebungen der Arbeiter je verwirklichten. Nur sei zu befürchten, daß die Arbeiter selbst diese Tatsache nicht eher einsehen würden, als bis sie die ganze Gesellschaft über den Haufen geworfen hätten. Die Arbeiter seien im Besitz des Stimmrechts und der Macht, die Welt auf den Kopf zu stellen. Ihre Führer rieten ihnen, ihre Macht zu gebrauchen, und die Arbeiter schickten sich an, das wirklich zu tun. Einige der Schwarzseher gingen so weit, zu prophezeien, daß binnen kurzem der Zusammensturz der sozialen Ordnung da sei. Die Menschheit, schlossen sie, habe die höchste Stufe der Zivilisation erklommen, sie schicke sich nun an, Hals über Kopf ins Chaos hinabzustürzen. Nach diesem Absturz werde sie sich ohne Zweifel wieder erholen, um ihr Kletterwerk an der Leiter der Zivilisation von neuem zu beginnen. Durch wiederholte derartige Versuche aus der geschichtlichen und vorgeschichtlichen Zeit würden höchstwahrscheinlich die rätselhaften Beulen erklärt, die der menschliche Schädel aufweise. Wie alle großen Bewegungen, so
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