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Ein Rückblick aus dem Jahr 2000

Ein Rückblick aus dem Jahr 2000

Titel: Ein Rückblick aus dem Jahr 2000
Autoren: Edward Bellamy
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drehe sich auch die Geschich te der Menschheit im Kreise und kehre immer wieder zu ihrem Ausgangspunkt zurück. Die Vorstellung eines unendlichen Fortschritts in gerader Linie sei ein bloßes Hirngespinst, das jedes Seitenstücks in der Natur entbehre. Die Bahn eines Kometen sei vielleicht das beste Bild des Weges, den die Menschheit durcheile. Aufwärts und sonnenwärts strebe das Menschengeschlecht aus der Nacht der Barbarei zur Sonnenhöhe der Zivilisation, um dann wiederum zum Ausgangspunkt seiner Bahn in die tiefsten Regionen des Chaos herniederzusteigen. Das war selbstverständlich eine extreme Ansicht, allein ich erinnere mich, daß ernste Bekannte in ihren Gesprächen über die Zeichen der Zeit sie vertraten. Es war zweifellos die gang und gäbe Meinung denkender Leute, daß die Gesellschaft einer kritischen Epoche entgegengehe, die tiefgehende Veränderungen mit sich bringen könne. Die Arbeiterunruhen, ihre Ursachen, ihr Verlauf und die Mittel, sie zu verhüten, bildeten das Hauptthema der Erörterungen, die in der Presse und in ernsten Unterredungen gepflogen wurden. Die nervöse Spannung, die sich der öffentlichen Meinung bemächtigt hatte, fand ihren greifbaren Ausdruck in der Erregung, die das müßige Geschwätz einer Handvoll Leute verursachte, die sich selbst als Anarchisten {3} bezeichneten. Diese bildeten sich nichts Geringeres ein, als das amerikanische Volk durch Androhung von Gewalttätigkeiten so weit terrorisieren zu können, daß es ihre Ideen annähme. Als ob eine Nation sich je aus bloßer Furcht dazu verstehen würde, eine neue soziale Ordnung einzuführen! Obendrein eine mächtige Nation, die erst vor kurzem eine Rebellion der Hälfte ihrer Bürger niedergeschlagen hatte, um das herrschende politische Regime aufrechtzuerhalten {4} .
    Als reicher Mann, der ein großes Interesse an der Aufrechterhaltung der bestehenden Ordnung hatte, teilte ich natürlich die Befürchtungen meiner Klasse. Ja, zweifelsohne war ich zur Zeit, von der ich schreibe, den Bestrebungen der Arbeiter besonders feindlich gesinnt. Der Grund dazu war ein ganz persönlicher: der Aufschub meines Eheglücks infolge der Streiks.

 
2. Kapitel
Julian West schläft ein
     
    Der 30. Mai 1887 fiel auf einen Montag. Er gehörte im letzten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts zu den alljährlichen Nationalfeiertagen. Er war der sogenannte „Dekorationstag“, der gefeiert wurde, um das Andenken der Soldaten der Nordstaaten zu ehren, die am Kriege für die Erhaltung der Union teilgenommen hatten. Unter militärischem und bürgerlichem Ehrengeleit, Musikkorps an der Spitze, pflegten die Veteranen an diesem Tage nach den Kirchhöfen zu ziehen und auf die Gräber ihrer gefallenen Kameraden Blumenkränze niederzulegen. Die Zeremonie war sehr feierlich und ergreifend. Da der älteste Bruder Edith Bartletts im Kriege gefallen war, so hatte die Familie die Gewohnheit, am Dekorationstag seine Ruhestätte in Mount Auburn zu besuchen.
    Ich hatte mir die Erlaubnis ausgebeten, sie dorthin begleiten zu dürfen. Als wir gegen Abend in die Stadt zurückkehrten, blieb ich bei der Familie meiner Braut zu Tische. Nachdem die Mahlzeit vorüber war, nahm ich im Salon eine Zeitung zur Hand und las von einem neuen Streik der Bauarbeiter, der wahrscheinlich das Fertigwerden meines unglückseligen Hauses noch weiter hinausschieben mußte. Ich erinnere mich noch deutlich, wie aufgebracht ich darüber wurde. In so kräftigen Ausdrücken, wie sie die Gegenwart von Damen nur gestattete, verwünschte ich die Arbeiter im allgemeinen und die Streikenden im besonderen. Die Anwesenden pflichteten mir durchaus bei, und in der folgenden Unterhaltung fielen von allen Seiten solche Bemerkungen über das sittenlose Treiben der aufhet zenden Arbeiteragitatoren, daß diesen Herren die Oh ren geklungen haben müssen. Man war sich darin einig, daß die Verhältnisse mit jedem Tag schlimmer würden, so daß niemand wissen könne, wie das alles noch en den werde. „Das Schlimmste ist“, meinte Frau Bartlett, wie ich mich noch deutlich erinnere, „daß es den Anschein hat, als ob die Arbeiterklasse der ganzen Welt mit ei nem Male verrückt geworden wäre. In Europa stehen die Dinge sogar noch schlimmer als hier. Dort möchte ich um keinen Preis zu leben wagen. Ich fragte neulich meinen Mann, wohin wir eigentlich auswandern soll ten, wenn die schrecklichen Ereignisse eintreten würden, die uns von den Sozialisten angedroht werden. Er gab mir zur Antwort, daß er jetzt
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