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Ein Ring aus Asche

Ein Ring aus Asche

Titel: Ein Ring aus Asche
Autoren: Cate Tiernan
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einen anderen Grund, aus dem sie sich hier auf dem St. Louis-Friedhof No.1 befand.
    Mit gesenktem Kopf begann sie, zur weitab gelegenen südwestlichen Ecke zu laufen, einem der ersten Bereiche, die in den 90er-Jahren des 18. Jahrhunderts hier erschlossen worden waren. Gott, war das lange her. Und doch waren die Erinnerungen immer noch unauslöschlich in ihr Gedächtnis eingebrannt; die Zeit hatte sie nicht auslöschen können.
    Nach einigen Minuten strammen Laufens kam sie an einen Ort, den sie jedes Mal besuchte, wenn sie in New Orleans war. Gegenüber der Familienkrypta stand eine kleine Bank. Sie ließ sich darauf nieder und legte ihre Tasche mit der Fotoausrüstung auf die Seite. Die Sonne brannte und wurde von allen Seiten von weißem Marmor und zementversiegelten Gräbern reflektiert. Die Menschen hatten schon vor langer Zeit begriffen, dass sie alle Bäume vom Friedhof entfernen mussten, wenn sie verhindern wollten, dass dicke Wurzeln die Särge zehn Jahre später aus dem Erdboden hoben.
    Ouida dachte an all die Winter, die sie frierend in Massachusetts verbracht hatte. Sie war eben einfach eine Südstaatlerin. Die Kälte war ihr durch die Knochen bis ins Mark gekrochen. Hier hingegen schien die Hitze auf ihrer Haut zu schmelzen und all die Anspannung Schicht um Schicht zu lösen. Hier war sie mehr zu Hause, mehr sie selbst. Aber die Last der Erinnerung war in Massachusetts so viel leichter zu ertragen. Sie wusste, dass sie dorthin zurückkehren würde.
    Nach wenigen Minuten sah Ouida sich stirnrunzelnd um. Da kam jemand. Jemand, den sie kannte. Sie fokussierte ihre Gedanken, ließ sie sich in schlanken Ranken ausbreiten und Informationen aus einem immer weiter werdenden Kreis aufnehmen.
    Daedalus.
    Kurz darauf tauchte er auf. In seinem schwarzen Poloshirt und den hellbraunen Leinenhosen wirkte er irgendwie fehl am Platz.
    »O uida«, sagte er. »H ab ich mir doch gedacht, dass ich dich hier drüben gespürt habe.« Er betrachtete erst sie, dann ihre Umgebung. Als er den Namen auf dem Grab ihr gegenüber erblickte, lächelte er dünn. »L a famille Martin«, las er laut vor. »A rmand. Grégoire. Antonine. Du bist also immer noch dabei, die Vergangenheit wiederzukäuen, ja, Ouida?«
    Dies war keine Angelegenheit, die sie mit ihm diskutieren würde. »W as machst du hier?«
    Er zuckte die Schultern und setzte sich, ohne dass sie ihn dazu aufgefordert hätte, neben sie auf die Bank. »I ch sammle nützliche Dinge.« Er deutete auf die Segeltuchtasche, die er in der Hand hielt. »A uf einem so alten Friedhof gibt es immer wieder beschädigte Gräber. Und manchmal findet man den ein oder anderen Knochen für den Vorratsschrank. Oder auch Spanisches Moos, andere Moossorten, allen möglichen nützlichen Krimskrams eben.«
    Ouida sah ihn angewidert an und er lachte. »W as denn, kriegst du deine Knochen vielleicht über den Versandkatalog? Also bitte.«
    »I ch wende einfach nicht viele Zauber an, für die man menschliche Knochen braucht, Daedalus.«
    »T u nicht so überlegen, Ouida.« Er wirkte nicht ärgerlich. »U ns war immer bewusst, dass wir unterschiedliche Interessen verfolgen.« Er machte eine ausholende Handbewegung über den Friedhof. »U nd weißt du, abgesehen davon halte ich auch immer nach Melita Ausschau.«
    Ouida war ehrlich überrascht. »D u hältst nach ihr Ausschau? So als könnte sie hier irgendwo liegen? Du machst wohl Witze. Wie um alles in der Welt sollte sie gestorben sein?«
    »I st sie höchstwahrscheinlich nicht. Aber so langsam glaube ich, es besteht eine kleine Chance, dass der Ritus eine andere Wirkung auf sie gehabt hat. Vielleicht wegen all der Magie, die sie vorher schon praktiziert hatte, oder aus irgendeinem anderen Grund. Immerhin hat der Ritus Cerise getötet. Also hat er vielleicht mit Melita auch noch etwas anderes angestellt. Es besteht immer Hoffnung, wie weit hergeholt sie auch sein mag. Das Wichtigste wäre, sie zu finden, tot oder lebendig, bevor sie jemanden von uns findet.«
    Ouida feixte: »S ie hatte zweihundertfünfzig Jahre Zeit, uns zu finden, wenn sie gewollt hätte. Niemand von uns hat sich je versteckt.«
    »J a, aber jetzt versuchen wir, den Ritus zu praktizieren«, erinnerte Daedalus sie.
    »O der zumindest du tust das«, antwortete Ouida.
    Daedalus runzelte die Stirn. »W ir alle tun das. Jeder von uns.«
    Ouida sagte nichts. Knochen sammeln? Nach Melita Ausschau halten? Was machte Daedalus wirklich hier? Wusste er etwas über Melita, das er bislang
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