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Ein Ort zum sterben

Ein Ort zum sterben

Titel: Ein Ort zum sterben
Autoren: Carol O'Connell
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für Gewaltverbrechen beobachten konnte.
    Die beiden Wände rechts und links von ihm waren Markowitz pur und gewissermaßen eine Fortsetzung der Aktenlawinen und Zettelhaufen, die den Schreibtisch bedeckten. An Korkplatten, die von der Decke bis zum Boden reichten, steckten seine Aufzeichnungen, festgehalten auf Streichholzbriefchen, Dienstplänen, Observierungs- und Verhaftungsprotokollen, Aktennotizen, auf allem, was in einer expandierenden Abteilung an Papierkram so anfiel. Die scheinbar chaotische Anordnung war typisch für Markowitz. Er war ein Detailfanatiker gewesen, ein Sammler von Impressionen, ein Hamsterer noch der kleinsten, unbeachtlichsten Fingerzeige. Am intensivsten aber beschäftigte Coffey im Augenblick die Wand, die er direkt im Blick hatte, denn diese Wand war leer. Vor der Beerdigung war auch dort eine mit handgeschriebenen Notizen, Zeitungsausschnitten und Zeugenaussagen gespickte Korkfläche gewesen – eine Materialsammlung zu den Morden im Gramercy Park, die die Sonderkommission zur Zeit praktisch rund um die Uhr beschäftigten.
    Diese Informationen waren natürlich auch weitgehend im Computer gespeichert, die Beweismittel im Asservatenraum hinter Verschluß, aber das war kein Trost. Die hintere Wand war Markowitz’ Hinterlassenschaft, ein letztes Zeugnis seines mit äußerster Logik und Präzision arbeitenden Hirns. Schon zwanzig, dreißig Quadratzentimeter Freiraum in dem Papierwust dieses Büros hätten Coffey nervös gemacht. Die leere Wand war wie ein Schlag ins Gesicht.
    »Wie hat sie das Zeug rausgeschafft, Riker?« blaffte er den Sergeant an, der gedankenvoll auf seine abgestoßenen Schuhe sah.
    »Sie glauben also, daß es Mallory war?«
    »Ich bin schließlich kein Vollidiot!«
    Er habe nichts gesehen, sagte Riker und verschwieg wohlweislich, daß sie mit einer dicken Korkrolle unter dem einen Arm und einer Schreibunterlage unter dem anderen, einem Schreibtischkalender und sonst noch allerlei an Mitnehmenswertem in einer großen Tasche durch den voll besetzten Dienstraum und an dem Sicherheitsbeamten vorbei in die Garage marschiert war. Den Fotokopierer hatte er getragen. Damit sie nicht zweimal zu gehen brauchte.
    Dabei hatte Mallory nur eine Wand abgeschleppt. Lieutenant Coffey konnte von Glück sagen, fand Riker, daß sie ihm nicht auch noch den Schreibtisch und den Sessel unter dem Hintern weggeklaut hatte.
     
    Mallory betrat ihr kleines Arbeitszimmer, in das Commissioner Beale nicht vorgedrungen war, ein Zimmer von spartanischer Schlichtheit, in dem früher nur der PC, ein Schreibtisch, ein Sessel und ein Regal mit EDV-Handbüchern und Disketten aus zahllosen Hackeraktionen gestanden hatten. Die Fensterscheiben waren spiegelblank. Kein Fleck, kein Streifen hinderte den Blick daran, sich in die Tiefe des brausenden Verkehrs zu stürzen, der am Hudson entlangrollte.
    Im Schneidersitz setzte sie sich auf den Fußboden und rollte vorsichtig Markowitz’ Vermächtnis aus. Die Korkunterlage durfte nicht beschädigt werden, die verschiedenen Zettelschichten hatten eine ganz bestimmte Bedeutung für seine Sicht des Falles.
    Auf der ersten Schicht fand sich unter anderem auch das Persönlichkeitsprofil, das das FBI von dem Mörder erstellt hatte. Demnach war er zwischen zwanzig und fünfunddreißig, vor seinem dreizehnten Lebensjahr von seinem Vater verlassen und von einer Frau – Mutter oder Großmutter – aufgezogen worden. Über diesem Blatt aber hingen genaue Angaben über die Aktienportfolios der ersten beiden Opfer. Markowitz hielt viel von Geldmotiven. Daß er das FBI-Profil überdeckt hatte, sprach dafür, daß er den Täter nicht für einen Psychopathen hielt. Er ordnete die Unterlagen immer so an, daß er von seinem Schreibtisch aus jeweils nur die oberste Schicht der Korkwand vor Augen hatte, und Stück für Stück fügten sich dann die einzelnen Teile für ihn zum Ganzen. Es war alles da – man mußte es nur erkennen können.
    Nach dem zweiten Mord hatte Mallory für ihn recherchiert. Der Bericht über den von ihr favorisierten Verdächtigen hatte einen Ehrenplatz auf der Korkunterlage. Jonathan Gaynor entsprach nicht in allen Punkten dem FBI-Profil, aber als Alleinerbe seiner Tante traf das Geldmotiv auf ihn zu. Estelle Gaynors Erbe war siebenunddreißig und zweifellos clever (ja, Rabbi, ich habe gut aufgepaßt!), denn er hatte beinah genauso viele Buchstaben, die akademische Titel und die Mitgliedschaft in angesehenen Vereinigungen bezeichneten, hinter seinem Namen wie
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