Ein Ort zum sterben
Sonnenuntergang bog sie auf der Twentieth Street nach links ein, ließ Hupen- und Sirenengeräusch, Straßenstreitereien und brandenden Verkehr hinter sich und rollte sacht einem vergangenen Jahrhundert entgegen.
Kopfsteinpflaster und Gaslaternen hatte der Gramercy Square nicht mehr aufzuweisen, sonst aber hatte sich dort in den letzten hundert Jahren nicht viel verändert. Den Platz umstanden ehrwürdige Stadthäuser aus rotem und braunem Backstein, ausgestattet mit viel Marmor und Granit, Mahagoni und Messing. Man kam sich vor wie auf einer Insel, so ruhig und friedlich war es hier. Zwar machten der New Yorker Autoverkehr und die New Yorker Fußgänger vor dem Gramercy Square nicht halt, aber die imposanten Gebäude mit den Fenstern, die wie strenge Wächter wirkten, dämpften durch ihr bloßes Dasein allzu lebhaftes Getriebe, zwangen die Schritte zu einer bedachtsameren Gangart.
In diesem schönen alten Viertel gab es für einen, der nicht dazugehörte, keinen Platz zum Verweilen. Der kleine Park, der das Herzstück des Square bildete, war von einem spitzenbewehrten schmiedeeisernen Gitter umgeben, zu dem nur die Anwohner einen Schlüssel besaßen. Für Außenstehende gab es keine Möglichkeit zum Ausruhen, gab es nicht eine einzige Bank. Alle Straßen führten sie auf dem schnellsten Weg wieder vom Gramercy Square weg. Nur Hundebesitzer, die ihre Lieblinge Gassi führten, blieben hin und wieder stehen, alle anderen zogen durch, ohne Spuren zu hinterlassen.
Mallory blieb nur noch eine Stunde Tageslicht, als sie mit einigem Abstand von dem Taxi, das den Verdächtigen von seiner letzten Veranstaltung in der Columbia University zurückgebracht hatte, am Gehsteig hielt. In den Straßen jenseits der Gitterstäbe, hinter die sich die Anwohner freiwillig zurückzuziehen pflegten, war es still. Im Park, von Gittern umgeben, saßen Frauen in sommerlichen Kleidern und mit winterweißem Haar auf hölzernen Bänken und redeten mit den Händen, eine junge Mutter schlenderte mit einem kleinen Kind über die Kieswege. Ein alter Mann saß allein, nur ein paar Tauben leisteten ihm Gesellschaft. Blumenduft wehte durch das heruntergekurbelte Wagenfenster.
Während der Verdächtige das Taxi zahlte, holte Mallory aus dem Handschuhfach seinen Stundenplan heraus, den sie aus dem Zentralrechner der Uni abgerufen hatte, und das Programmheft des Stückes, das von einer studentischen Theatergruppe vorbereitet wurde. In der Liste der Mitspieler war auch ein gewisser Jonathan Gaynor aufgeführt. Der Mörder hatte immer tagsüber zugeschlagen. Gaynors Veranstaltungen und seine Sprechstunde folgten nicht lückenlos aufeinander. Mit einem schnellen Wagen und einigem Glück an den Ampeln hätte er es schaffen können, die hundert Blocks bis zum Gramercy Square zu fahren und mal eben einen Mord zu begehen.
Daß Professor Jonathan Gaynor für den Zeitpunkt des Todes seiner Tante ein Alibi hatte, störte sie nicht sonderlich. Wer clever genug war, diese Morde zu begehen, konnte auch eine Handvoll Studenten davon überzeugen, daß sie ihn zu einer Zeit gesehen hatten, die ihm ins Konzept paßte. Schließlich war das ja das Geheimnis jeder guten Zaubernummer: daß die Zuschauer etwas sahen, was gar nicht da war. Ein Mord am hellichten Tag mochte aussehen wie Hexerei, aber an so etwas glaubte sie nicht. Es war ein Trick dabei, und hinter den würde sie schon noch kommen.
Sie sah durch die Gitterstäbe zu der Stelle hinüber, wo jenseits der gepflegten Büsche, Blumenbeete und grünen Rasenflächen das erste Opfer umgekommen war. Mrs. Cathery war neben einem der Geräteschuppen am Ende des Parks gefunden worden, die aussahen wie putzige Miniaturhäuschen.
Die raffinierte Ausführung einer Tat von so primitiver Brutalität war ein noch ungelöstes Rätsel. Achtundzwanzig Anwohner hatten ausgesagt, daß sie an jenem Tag zu unterschiedlichen Zeiten im Park gewesen waren. Kein einziger erinnerte sich daran, einen Fremden gesehen zu haben, der den Park betreten, eine alte Frau zu dem Schuppen gelockt, sie abgestochen, ihre Perlen verstreut und ihr Blut vergossen hatte – und das alles fast ohne Deckung. Viel Lärm hatte es wohl nicht gegeben, Hilferufe schon gar nicht. Der erste Messerstich hatte die Kehle getroffen, das Opfer hatte nach Slopes Meinung nicht mehr schreien können. Allenfalls war mit dem Blutstrom noch ein leises Röcheln herausgekommen.
Mallory spürte dunkel, daß sie etwas ganz Simples übersah. Aber was? Es mußte eine logische
Weitere Kostenlose Bücher