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Ein Ort wie dieser

Ein Ort wie dieser

Titel: Ein Ort wie dieser
Autoren: Marie-Aude Murail
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Montoriol war überall gleichzeitig, schüttelte Hände, dankte, lächelte, umarmte.
    »Madame Gervais! Da mussten wir doch erst eine Revolution machen, damit wir Sie hier begrüßen dürfen!«
    Und so weiter. Madame Montoriol folgte ihm überallhin wie ein kleiner grauer, hartnäckiger Schatten. Sie hatte Angst um ihn, sie wusste, dass er seine Karriere riskierte. Um elf Uhr kam der schwarze Journalist von
La République du Centre
, um einige Fotos zu machen. Georges begrüßte ihn auf seine mondäne und herzliche Art, aber er erhoffte sich ein größeres Medienaufgebot. Eloi hatte ihn gewarnt: Wenn das Ereignis nicht über die lokale Presse hinausgehen würde, hätte es keine Auswirkungen für die Baoulés. Das Fernsehen hätte kommen müssen.
    Um viertel nach elf nahm Georges das Mikrofon der AWG und rief »Achtung bitte!«. Wie am ersten Tag des Schuljahres machten einige »pst, pst«, um ihm zuzuhören.
    »Wir werden jetzt die Zeremonie der nichtkirchlichen Patenschaften beginnen können.«
    Montoriol betonte das Wort »nichtkirchlich«. Plötzlich war im Hof Stimmengewirr zu hören, und aus den Reihen der AWG ertönte Applaus. Gerade war Eloi eingetroffen, bleich und mit eingefallenen Zügen lehnte er an der Schulter seines Vaters. Madame de Saint-André lief zu ihm: »Aber das hättest du nicht tun dürfen, dazu bist du doch noch nicht in der Lage!«
    »In der Tat, das war nicht unbedingt nötig«, sagte Monsieur de Saint-André etwas verärgert. »Aber er ist noch dickköpfiger als … als ich.«
    Als Eloi Cécile sah, ließ er die Schulter seines Vaters los, ging zu Cécile und stützte sich auf sie. Montoriol hatte gerade das erste Patenkind aufgerufen. Es war Démor. In der Menge hörte man: »Ja, was hat der denn im Gesicht? Das sind Verbrennungen, oder? Wie schrecklich …«
    Für Omchen war das egal. Der da war ihr der Liebste.
    »Démor«, fragte ihn Monsieur Montoriol. »Akzeptierst du Madame Lucie Dubois als deine Patin?«
    »Wer ist das?«, erwiderte der kleine Junge und sah sich um.
    »Das bin doch ich, das bin doch ich!«, beruhigte ihn Omchen.
    »Ach, uff!«, seufzte Démor und rief damit Gelächter hervor.
    Dann akzeptierte auch Omchen Démor als Patensohn, und beide umarmten sich. Da Omchen mit dem Wort »Patin« mehr anfangen konnte als mit »nichtkirchlich«, hielt sie Démor ein hübsches Kettchen mit einem Medaillon der Heiligen Jungfrau hin.
    »Die Geschenke kommen später!«, schimpfte Monsieur Montoriol, der spürte, wie sich das Fallbeil einer Inspektion durch die obere Schulbehörde seinem Genick näherte. »Toussaint, jetzt zu dir!«
    Da hörte man ein Getuschel, das vom Schultor ausging: »Das Fernsehen kommt, das Fernsehen …« Gerade hatte ein Journalist des Regionalsenders FR 3 mit einer Kamera auf der Schulter den Hof betreten. Er konnte die folgenden Patenschaften und die Abschlussrede des Direktors filmen.
    »Meine lieben Freunde, wir sind heute hier versammelt, weil wir jenseits all unserer Unterschiede dieselben Werte vertreten.«
    »Autsch, jetzt legt er wieder los«, jammerte Monsieur de Saint-André, den Georges’ Neigung zu Moralpredigten erzürnte.
    »Unsere Schule ist groß genug, um zwölf Kinder aufzunehmen, die keine Heimat mehr haben«, fuhr Georges fort. »Unsere Schule ist stark genug, um zwölf Kinder zu schützen, deren Eltern festgenommen wurden. Unsere Schule, die Schule der Republik, macht es sich zur Pflicht, diesen zwölf Kindern so wie all unseren Kindern Lesen, Schreiben, Rechnen und Zusammenleben beizubringen. Und niemand hat das Recht, sie daran zu hindern.«
    Georges spürte sein Herz so wild klopfen wie noch nie. Die letzten Worte erhoben sich wie von selbst: »Es lebe die Schule! Es lebe die Republik!«
    Es herrschte eine Sekunde verdutztes Schweigen, dann stimmte die AWG die bekannte republikanische Hymne an: »Die kleine Maus ist tot, ach hey, hey, höö! Es hängt heraus all ihr Gedärm, das ist nicht schön, das ist nicht schön.«
     
    Georges nahm kaum etwas vom Büffet. Er flüchtete sich in sein Büro. Er spürte, dass er kurz vor dem Zusammenbruch war. Vielleicht rannte er durch seinen Widerstand gegen die Präfektur geradewegs gegen die Wand? Aber er hatte keine Wahl gehabt: Alphonse beobachtete ihn. Genau in diesem Augenblick des Zweifelns und der Ermüdung ahnte Monsieur Montoriol nicht, dass der Journalist von FR 3 tolle Bilder eingefangen hatte, die auf mehreren Sendern gezeigt werden würden: Toussaint, wie er seinem Anwalt und
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