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Ein Ort wie dieser

Ein Ort wie dieser

Titel: Ein Ort wie dieser
Autoren: Marie-Aude Murail
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Angst oder weinten.
    »Beruhigt euch«, sagte Georges. »Alphonse, du bist für deine Geschwister verantwortlich.«
    »Ja, Monsieur.«
    »Ihr werdet die Schule hintenraus verlassen, durch den Eingang, wo die Lieferanten reinfahren. Cécile, Sie bringen sie alle zu mir. Marie-Claude beaufsichtigt am Tor die Schüler, die die Schule verlassen.«
    Chantals Hand ging auf Georges’ Ärmel nieder: »Schick den Brief an die Eltern. Ich bin einverstanden.«
    »Ich auch«, rief Melanie.
    Georges drehte sich zu Alphonse um: »Hasen-Check.«
    Sie klatschten sich ab, schlugen die Faust aneinander, machten das V der Hasenohren und dann
quiekquiek.
    Daraufhin verstreuten sich alle. Um 16 : 30  Uhr ging Monsieur Montoriol wie jeden Tag zum Schultor, um es zu schließen. Die beiden Polizisten standen immer noch auf dem Bürgersteig.
    »Warten Sie auf jemanden?«, erkundigte sich Georges höflich.
    Der Polizist, den er ansprach, zuckte mit den Schultern: »Es gibt bei Ihnen einen zweiten Ausgang, nicht wahr?«
    Er schien nicht einmal verärgert, dass er geleimt worden war.
    »Aber Sie bekommen noch Ärger«, warnte er. »Großen Ärger.«

Kapitel 27 In dem wir alle mit der Familie Baoulé solidarisch sind
    Mit einem Glas Whisky in Reichweite genoss Monsieur Cambon den Feierabend, indem er das Fernsehprogramm las. Da er das bereits am Vortag und am Vortag des Vortages getan hatte, hätte er das Programm auswendig aufsagen können.
    »Was? Was gibt’s?«, fragte er seine Tochter, die ihm ein Blatt hinhielt.
    »Das ist sehr wichtig«, sagte Audrey.
    Murmelnd überflog Monsieur Cambon das Blatt: »Madame, Monsieur … Elfenbeinküste … Familie Baoulé …«
    »Ja, aber ich hab doch nichts zu schaffen mit deinen Afrikanern!«, rief er und gab Audrey das Blatt zurück. »Was ist das für eine Linken-Schule?«
    Audrey sah ihren Vater ratlos an und ging dann in die Küche. Madame Cambon schnitt gerade eine Gurke in Scheiben.
    »Warum hat dein Vater geschimpft?«, fragte sie.
    »Wegen nichts. Lies das, das ist sehr wichtig.«
    Audrey hielt ihrer Mutter das Blatt unter die Nase. Madame Cambon wischte sich die Hände an der Schürze ab und las mit gerunzelter Stirn.
    »Hast du das deinem Vater gezeigt?«, erkundigte sie sich halblaut.
    Keine Antwort.
    »Hol mir einen Kuli«, flüsterte Madame Cambon.
    Audrey sauste wie der Blitz in ihr Zimmer und kam mit ihrem Mäppchen zurück.
    »Welche Farbe magst du? Ich hab Rosa oder Gold.«
    »Ganz egal. Beeil dich.«
    Sie warf einen Blick in Richtung der Tür, dann schrieb sie in goldenen Lettern:
Ich erkläre mich mit der Familie Baoulé solidarisch
und unterschrieb. Ihre Tochter fiel ihr um den Hals und gab ihr einen Kuss.
    An diesem Abend beim Essen stieß die Familie Cambon beim Zappen auf eine Reality- TV -Sendung. Madame Fulgence, Mutter von sechs Kindern, gläubige Katholikin in Neuilly, machte sich auf, um eine Woche in Deuil-la-Barre im Haushalt von Madame Poggi zu verbringen, einer engagierten Gewerkschaftsaktivistin und Mutter von zwei regelmäßig kiffenden Jugendlichen. Natürlich nahm Madame Poggi dann die Stelle von Madame Fulgence ein, denn das war das Prinzip der Sendung
Müttertausch.
    Warum gibt es nicht auch
Vätertausch?
, fragte sich Audrey und schien diesen Mangel zu bedauern.
    Ein paar Häuser weiter übernahm Philippine dieselbe Aufgabe wie ihre Freundin Audrey. Sie hielt ihrer Mutter das Blatt hin. Minette las mit fassungsloser Miene.
    »Ja, was soll ich da machen?«
    »Du schreibst: Ich erkläre mich mit der Familie Baoulé solidarisch.«
    »Aber ich … Ich weiß nicht, ob ich mich solidarisch erkläre.«
    »Das hat die Lehrerin gesagt«, gab Philippine zurück. »Und du schreibst ordentlich auf der Linie.«
    Minette kam der Aufforderung nach, ohne recht zu wissen, ob es sich um eine Schulaufgabe oder die Verpflichtung zum bewaffneten Kampf handelte.
    Bei Omchen verliefen die Dinge völlig anders. Da sie ganz entschieden ihre Brille verloren hatte, war es an Démor, mühsam den Satz abzuschreiben, unter den die alte Frau dann eine vage Unterschrift kritzelte.
    »Und vielleicht könntest du eine neue Brille kaufen?«, schlug Démor ihr zweideutig vor.
    Die Kinder machten ihre Sache so gut, dass am nächsten Tag alle Briefe zurückkamen. Unterschrieben. Sie wurden an den Präfekten geschickt. Dann wurden das Rathaus, das Flüchtlingsamt, das Verwaltungsgericht und die Zeitungen
La République du Centre
,
Le Figaro
,
Le Monde
,
Libération
,
La Croix
und andere mit
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