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Ein Ort wie dieser

Ein Ort wie dieser

Titel: Ein Ort wie dieser
Autoren: Marie-Aude Murail
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wollte ich mit Ihnen sprechen«, antwortete Georges und breitete die Zeichnungen auf seinem Schreibtisch aus.
    Als er mit den Erklärungen fertig war, war Marie-Claude Acremant, die aus einer alten Gewerkschafterfamilie stammte, bereit, auf die Barrikaden zu gehen, Melanie hatte das Gefühl, sie sei aus Versehen in eine Fernsehserie geraten, und Chantal Pommier verzog skeptisch das Gesicht.
    »Das ist doch sehr unwahrscheinlich«, sagte sie schließlich. »Ich werde mit meinem Mann darüber sprechen. Er kennt Leute im Rathaus, er hat Einfluss …«
    Sie wedelte mit ihren Armreifen, um ihre Worte zu unterstreichen – zur großen Verärgerung von Monsieur Montoriol.
    »All das ist Gerede«, erwiderte er. »Wir müssen handeln, oder wir werden überholt. Das Schicksal unserer Schule ist mit dem der Baoulés verknüpft. Hier kommen die Vorschläge von Eloi. Erstens, die Eltern sensibilisieren.«
    Er teilte den vier Lehrerinnen einen Brief aus, in dem Folgendes stand:
    Madame, Monsieur,
    Ihre Kinder haben Ihnen sicher schon von unserer Sorge um zwölf Kinder aus der Elfenbeinküste erzählt, die das zweite Jahr auf die Louis-Guilloux-Schule gehen. Ihren Eltern droht jederzeit die Ausweisung in die Elfenbeinküste, wo sie bereits den schlimmsten Verfolgungen ausgesetzt waren. Unsere zwölf Schüler werden in ihr Land zurückgehen müssen, oder sie werden dem Jugendamt anvertraut. Das Kollegium der Louis-Guilloux-Schule fordert von den betroffenen Behörden eine neue Prüfung der Situation der Familie Baoulé. Um unserem Vorstoß mehr Gewicht zu verleihen, bitten wir um Ihre Unterstützung.
    Die Eltern sollten unter den Brief den Satz
Ich erkläre mich mit der Familie Baoulé solidarisch
anfügen und unterschreiben.
    »Diese Briefe werden wir der Präfektur schicken, danach gehen Kopien davon an die Stadtverwaltung, das Flüchtlingsamt, das Verwaltungsgericht und die Presse«, zählte Georges auf. »Das ist der zweite Punkt. Der dritte … Was gibt es?«
    Chantal Pommier wedelte ablehnend mit ihren vielen Armreifen.
    »Das geht doch nicht. Wir können doch nicht die Arbeit der Justiz behindern.«
    »Die Arbeit der Justiz?«, rief Montoriol laut. »Aber du hast nichts begriffen, wir haben es mit Gangstern zu tun.«
    »Das sind Hypothesen«, sagte Chantal und stand auf. »Ich werde mit meinem Mann darüber reden.«
    »Das ist doch ziemlich gefährlich«, bekräftigte Melanie. »Das ist Politik …«
    »Na und?«, widersprach Marie-Claude mit ihrer rauen Stimme. »Wovor hast du Angst?«
    Alle waren aufgestanden. Georges warf Cécile einen tiefbetrübten Blick zu. Er brauchte Einstimmigkeit, um handeln zu können.
    »Das war’s«, sagte er nur.
    Und er knüllte seinen Brief an die Eltern zusammen.
     
    Die Dinge beschleunigten sich am Donnerstagnachmittag bei Schulschluss. Cécile war die erste, die mit ihren Erstklässlern aus dem Tor trat, und sah zwei uniformierte Männer auf sich zukommen.
    »Polizei«, sagt der eine der beiden und grüßte. »Diese beiden Kleinen da …«
    Er deutete auf Toussaint und Démor.
    »Die heißen doch Baoulé?«
    Cécile leistete sich den Luxus, die Polizisten anzulächeln: »Nein, Sie irren sich«, sagte sie. »Das sind die beiden kleinen Rakotossons aus Madagaskar. Übrigens sollten die gar nicht hier sein.«
    Sie drehte sich zu den Zwillingen um und sah sie streng an: »Marcel, Philippe, geht wieder rein, ihr wisst genau, dass ihr donnerstags noch Hausaufgabenbetreuung habt.«
    Sie schob sie durchs Tor und flüsterte ihnen dabei zu: »Lauft zum Direktor. Sagt ihm, dass die Polizei da ist und euch verhaften will.«
    Dann lief sie, ohne weiter nachzudenken, schnell zu Marie-Claude Acremant, die auf der anderen Seite des Hofes stand und gerade ihre Schüler aufstellte.
    »Marie-Claude! Die Polizei! Schnell, wir müssen die Baoulés verstecken!«
    Marie-Claude packte Felix an der Schulter: »Geh Leon, Honorine und Victorine holen! Alle zum Direktor!«
    In dem Moment kam gerade Chantal mit ihren Schülern aus dem Gebäude, darunter Donatienne, Prudence und Pélagie. Cécile stürzte sich auf sie: »Chantal! Die Polizei ist da! Ich flehe dich an, lass sie nicht die Kinder mitnehmen!«
    Die Mädchen hatten es gehört. Prudence brach mit bester Wirkung in Schluchzen aus. Chantal nahm sie bei der Hand: »Dorthin!«, rief sie. »Schnell! Pélagie, Donatienne, kommt mit!«
    Das Sammeln aller Baoulés im Büro des Direktors schlug alle Evakuierungsrekorde bei Feueralarm. Die Kinder zitterten vor
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