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Ein Mann zum Abheben

Ein Mann zum Abheben

Titel: Ein Mann zum Abheben
Autoren: Kim Wright
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Tory hat alle Tassen aus ihren Schachteln geholt. »Reichen die für einen Kaffeeklatsch?«
    »Locker. Das hast du toll gemacht.« Es wäre so einfach, sie den ganzen Nachmittag da sitzen und Tassen stapeln zu lassen, doch ich habe ihr Hausaufgabenheft gesehen. Bis Donnerstag muss sie einen Zeitstrahl über ihr Leben anfertigen, und morgen Abend bin ich nicht zu Hause, um ihr dabei zu helfen. Wir holen die große Rolle gelbes Papier und eine Schachtel mit Zündhölzern vom Kamin. Damit kokle ich die Kanten an, so dass es nach einem historischen Dokument aussieht. Den gleichen Kunstgriff haben wir letztes Jahr in der zweiten Klasse angewandt, als sie eine Präsentation über Thomas Jefferson machen musste. Der Lehrerin gefiel sie so gut, dass sie sie im Vorraum der Aula aufhängte. Seitdem hält Tory es für das Geheimnis des akademischen Erfolgs, wenn man etwas an den Rändern versengt. Während sie das Papier festhält, führe ich mit der einen Hand das Streichholz am unteren Rand entlang, in der anderen halte ich für den Fall, dass alles in Flammen aufgeht, einen nassen Schwamm bereit. Wir haben gerade drei Ränder fertig bearbeitet, als Phil kommt. Er wirft einen Blick auf den Zeitstrahl und fragt mich, wo ich das gelernt hätte. Die Antwort, dass meine Mutter es mir beigebracht habe, scheint ihn zu überraschen. Phil hält meine Mutter für verrückt und akzeptiert grundsätzlich nur widerwillig Beweise
dafür, dass sie irgendetwas Praktisches zum täglichen Leben beisteuern kann.
    »Jetzt musst du für eine gute Tasse Kaffee nicht mehr aus dem Haus gehen«, sagt er.
    Ich brauche einen Moment, um zu kapieren, dass er von der Cappuccino-Maschine spricht. »Ich finde sie toll«, sage ich. »Gestern wollte ich sie benutzen, aber irgendetwas mache ich falsch. Der Dampf hat funktioniert, doch die Milch hat nicht geschäumt.« Phil blättert die Post durch. Ich sehe ihn ein bisschen unscharf. Wegen des Staubs nehme ich im Atelier meine Kontaktlinsen heraus, und meine Brille finde ich gerade nicht. Vielleicht habe ich sie in Phoenix vergessen, vielleicht auch im Flugzeug. »Du weißt ja, dass ich morgen Abend Literaturkreis habe. Ich habe es dir erzählt, erinnerst du dich?«
    Phil reißt den Umschlag einer Rechnung auf und schaut gedankenverloren auf das Blatt. »Zu viel Milch.«
    »Was?«
    »Der Aufschäumer funktioniert nicht, weil du zu viel Milch nimmst.«
    »Hast du gehört, was ich wegen meines Literaturkreises gesagt habe?«
    Tory und ich sind mit dem letzten Rand des Zeitstrahls fertig. Er sieht fantastisch aus. Sie pustet über die Kanten. Die Haare trägt sie im Nacken zu einem Pferdeschwanz gebunden, und ihr Gesicht wirkt so ernst wie das einer Pilgerin. Ich frage mich, wie viel sie von dem, was sich zwischen mir und Phil abspielt, mitbekommt, oder ob sie glaubt, alle verheirateten Leute würden so miteinander reden.
    Vielleicht ist das ja auch so.
    Ich habe aus der Zeitung Artikel ausgeschnitten, Wohnungsanzeigen, Ratschläge, wie man einen eigenen Kredit bekommt, Anfangszeiten für Kurse zum Programmieren
von Computern. Keine Ahnung, was das alles zu bedeuten hat; Kelly habe ich gesagt, dass ich nach einem Zeichen suche. Sie behauptet, das einzige Zeichen, nach dem ich suche, laute AUSGANG. Irgendwie wünsche ich mir, dass etwas Endgültiges geschieht, zum Beispiel ein Autounfall. Kein tödlicher, sondern einer, der dich aufrüttelt und dazu bringt, etwas Einschneidendes zu tun. Vielleicht schlägt Phil mich oder wird wegen Betrugs verhaftet, oder er brennt mit seiner Zahnhygienikerin durch, aber ich glaube kaum, dass er es mir so leichtmachen wird. Ich habe einen netten Mann geheiratet, und genau das wird mir am Ende zum Verhängnis werden.
    »Guck mal, Papa.« Tory wedelt mit einem Foto vor seinem Gesicht herum. Sie hat den ganzen gestrigen Abend lang Fotoalben durchgeschaut, und dieses Bild von mir und Phil, das zwei Tage vor ihrer Geburt entstanden ist, hat es ihr besonders angetan. Ich bin unglaublich dick und habe den roten Veloursbademantel an, doch selbst der geht vorne nicht zu. Aber ich lächle, und die Aufnahme ist so scharf, dass man den Titel des Buches lesen kann, das neben mir liegt, ein grausiger Krimi und damit die einzige Sorte Lektüre, die mich während des letzten beschwerlichen Schwangerschaftsmonats beruhigen konnte. Auch Phil lächelt, er sieht jung und zuversichtlich aus, während er mich umarmt und seine Hände auf meinen Bauch legt, als wäre er ein Basketball, den er gleich in
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