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Ein Kuss unter dem Mistelzweig

Ein Kuss unter dem Mistelzweig

Titel: Ein Kuss unter dem Mistelzweig
Autoren: Abby Clements
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beinahe kahlen Äste. Sein letztes Stündlein hatte nun geschlagen, beschloss Rachel und setzte ihn liebevoll beiseite. Unter dem Baum verbarg sich ein Gewirr aus Lichterketten, Weihnachtskerzen und anderen Dekoartikeln. Als sie die Lichterketten herausnahm, um sie zu entwirren, entdeckte sie einen Umschlag mit Fotos, der hier gar nicht hingehörte. Rachel blätterte durch die Fotos – die Kinder als Babys, Aiden stolz vor seiner ersten umgebauten Scheune. Ein Bild von Rachel als Teenager, zusammen mit ihrer besten Freundin, Laurie. An ihrem letzten Schultag standen sie gemeinsam vor dem Schultor. Da sie das Bild selbst geschossen hatten, war es ein wenig verschwommen und deutlich zu nah aufgenommen. Das musste neunzehnhundertfünfundneunzig gewesen sein, an dem Tag, als sie ihren Abschluss gemacht hatten. Beim Gedanken daran wurde es Rachel ganz warm ums Herz. Auf dem Bild trug sie ihr unbändiges dunkelblondes Haar offen und hatte leuchtend roten Lippenstift aufgelegt, während Lauries Haar hellrosa gefärbt war und an den Wurzeln dunkle Ansätze durchschimmerten. Sie beide umarmten sich, pressten die Wangen aneinander und grinsten breit. Diese Euphorie – sie konnte sich noch gut daran erinnern. Um ihren ersten Tag der Freiheit gebührend zu feiern, waren Laurie und sie mit Rachels Auto zum Strand gefahren. Dabei hatten sie Pearl Jam und Alanis Morissette durchs Autoradio dröhnen lassen und sich die Seele aus dem Leib gesungen.
    Rachel sah wieder auf das Foto hinunter. Damals waren Laurie und sie unzertrennlich gewesen. Doch die Dinge hatten sich verändert, für sie beide. Rachel stellte das Foto auf ihre Kommode, räumte den Karton wieder zurück und legte die besten Dekostücke beiseite, bevor sie wieder nach unten ging.
    Zak und Milly schauten Fernsehen, sodass ins Erdgeschoss des Cottages einigermaßen Ruhe eingekehrt war. Rachel winkte Bea zu sich in die Küche.
    »Hast du noch Zeit, um eine Tasse Tee zu trinken und ein bisschen zu plaudern?«, fragte Rachel.
    »Immer.«
    »Tut mir leid, dass ich dich hier so allein gelassen habe«, entschuldigte sich Rachel, während sie das Teewasser aufsetzte. »Ich hoffe, das war okay? Du bist so gut in Gesellschaftsspielen, und du weißt, wie ich immer beim Monopoly versage.«
    »Ich habe es genossen. Mittlerweile glaube ich auch, dass ich Zak nicht mehr gewinnen lassen muss. Seit er sechs ist, spielt er wirklich besser als seine Großmutter.«
    Rachel lachte und nahm die Milch aus dem Kühlschrank. Bea wollte aufstehen, um Tassen zu holen.
    »Du bleibst mal schön sitzen«, befahl ihr Rachel. »Du hast heute schon genug getan.«
    Bea ging zum Küchentisch hinüber und zog einen Stuhl zurück. Gerade, als sie sich hinsetzen wollte, verlor sie das Gleichgewicht. Im Bruchteil einer Sekunde fiel sie – wie in Zeitlupe – zu Boden. Rachel stürzte zu ihr hinüber, um ihrer Schwiegermutter zu helfen, und bemerkte, wie dieser ein verwirrter und bekümmerter Ausdruck übers Gesicht huschte.
    »Alles in Ordnung mit dir?«, erkundigte sich Rachel sanft. Bea war ganz blass geworden.
    »Ja, danke«, antwortete Bea. »Ich bin froh, dass die Kinder das nicht miterlebt haben. Mir ist ein bisschen schwindelig. Aber kein Grund zur Sorge«, erklärte sie. Dennoch stellte Rachel fest, dass Beas Hände zitterten, als sie ihr wieder auf die Beine half. Bea hielt sich am Tisch fest und setzte sich hin.
    »Bist du sicher, dass es dir gut geht?«, hakte Rachel nach.
    »Aber sicher doch. Was ist denn nun – ich dachte, wir wollten noch etwas plauschen. Lass uns die gute Stimmung nicht verderben, Rachel.«

K apitel 3
    Mittwoch, 22. November
    Als Laurie auf den viktorianischen Wohnblock zuging, in dem sie lebte, und die Wintersonne im Nebel über Brixton unterging, sah sie das Mädchen wieder. Sie drückte auf die Klingel und beugte sich zur Gegensprechanlage hinunter; das hellblonde, mit Strähnchen versehene Haar verdeckte zur Hälfte ihr Gesicht, nur ihre mit schwarzem Kajal umrandeten Augen waren gerade noch zu erkennen.
    »Jay, ich bin’s«, rief das Mädchen heiser. Laurie versetzte es einen Stich, als sie das Mädchen seinen Namen nennen hörte. Die Blondine musste Anfang zwanzig sein, nahm Laurie an, und war keinesfalls älter als fünfundzwanzig. Obwohl es eisig kalt war, trug sie einen Minirock, dazu eine schwarze Strumpfhose, braune Lederstiefel und eine Jeansjacke. Im Grunde war sie also kaum bekleidet.
    Dieser Tonfall, dachte Laurie, als sie ihren Schlüssel aus der
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