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Ein kleiner Biss

Ein kleiner Biss

Titel: Ein kleiner Biss
Autoren: Mathilda Grace
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murmelte ich einige Stunden später, den Blick auf ein altes Gemälde gerichtet, das direkt gegenüber dem Bett an der Wand hing. Ein dunkler Wald war darauf abgebildet und obwohl die knorrigen, blattlosen Äste der einzelnen Bäume und das schummrige Licht des Mondes, der die Szenerie ein wenig erhellte, düster wirkten, hatte das Bild eine beruhigende Wirkung auf mich. „Und ich dachte, du bist einfach nur eitel.“
    Marius saß seit einer Weile im Schneidersitz neben mir. Er hatte sich wieder angezogen und uns vor einiger Zeit frischen Tee gekocht und Sandwichs gemacht. Seither wich er nicht von meiner Seite und auch wenn ich es nicht zugegeben hätte, ich war froh darüber.
    Ich hatte ziemlich lange gebraucht, um mich nach meinem Nervenzusammenbruch, oder wie immer man das nennen sollte, wieder zu beruhigen, und nachdem das erste Entsetzen nachgelassen hatte, waren die Fragen gekommen. Unmengen davon schwirrten mittlerweile durch meinen Kopf. Ich wollte wissen, was mich erwartete und ich wollte vor allem verstehen, was es bedeutete, ein Gestaltwandler zu sein. Für mein Leben, für mich, und auch für die Leute, die in meinem Leben eine Rolle spielten. Ich hatte Familie und ich hatte Freunde.
    Ich musste einfach wissen, wie es weiterging, wenn ich zu einem Wolf wurde.
    „Ich bin eitel, da liegst du nicht mal falsch, aber ja, es ist so, dass wir mit unseren Zähnen bei Menschen aufpassen müssen. Nur ein Biss und es könnte zu spät sein.“
    „Es könnte zu spät sein?“, hakte ich sofort nach und wandte meinen Blick von dem Gemälde ab, um Marius anzusehen. Das hatte er noch gar nicht erwähnt.
    „Ich wollte dir keine Hoffnungen auf etwas machen, das nur in einem von zehn Fällen eintritt. Deshalb habe ich nichts gesagt.“
    „Es könnte sein, dass nichts passiert?“, beharrte ich und als Marius nickte, begann ich zu hoffen. Vielleicht gehörte ich ja zu den Glücklichen. Vielleicht war ich der eine Fall von zehn, bei dem nichts passierte. „Vielleicht habe ich Glück“, sagte ich leise und schaute zurück auf das Bild mit dem Wald. Ein Wolf würde sich in so einem Wald mit Sicherheit wohlfühlen. „Wie ist es, ein Wolf zu sein?“
    „Nicht anders als ein Mensch zu sein“, antwortete Marius und brachte mich zum Kopfschütteln, denn ich bezweifelte, dass es so einfach war, wie er behauptete. Wäre es wirklich so, hätte er mich kaum in Ketten legen müssen.
    „Und wieso liege ich dann in Ketten?“, sprach ich aus, was ich zuvor gedacht hatte. „Wenn es wirklich nichts Anderes ist, warum hältst du mich dann gefangen?“
    Marius seufzte und als ich ihn wieder ansah, kratzte er sich die Nase und überlegte dabei scheinbar, was er sagen sollte. Bevor ich nachhaken konnte, sprach er schon weiter. „Das hat nichts damit zu tun, dass du ein Gestaltwandler bist. Es liegt daran, dass du ein Wolf und so jung bist. Das ist vergleichbar mit einem Baby, das alles erst erlernen muss. Genauso wirst du lernen müssen, deine tierischen Triebe und den Wunsch dich zu wandeln unter deine Kontrolle zu bringen. Ich habe damals beinahe einen Monat gebraucht, bis ich mich wieder in einen Menschen zurückverwandeln konnte. Es geht nicht so schnell, wie vorhin bei mir. Und solange du dich und deine Fähigkeiten nicht beherrschen kannst, wirst du mehr Tier als Mensch sein. Ein Wolf eben. Mit starken Trieben und Gelüsten.“
    Großer Gott, Marius redete darüber, so als wäre das Alles bereits beschlossene Sache. Dabei hatte er eben noch gesagt, dass eine Chance bestand, dass es mir gar nicht so erging. Es war zwar nur eine kleine Chance, aber besser als gar keine. Jede Chance, so gering sie auch war, war mir im Augenblick lieber, als mich damit befassen zu müssen, dass mein Leben praktisch vorbei war und mein neuestes Hobby darin bestand, den Mond anzuheulen. Von den ganzen anderen Trieben und Gelüsten, was immer er damit meinte, gar nicht zu reden.
    Ich wusste nur sehr wenig über Wölfe. Außer, dass sie im Normalfall in festen Revieren und in kleinen oder größeren Rudeln lebten, eine Rangordnung hatten und ihr Revier gegen Feinde verteidigten. Aber damit hörte mein Wissen auf. Was bedeutete das nun für mich, wenn ich zum Wolf wurde? In wessen Revier war ich hier? Gab es noch andere Wölfe in der Gegend, abgesehen von Marius? Musste ich mich ihm später im Rudel etwa unterordnen? Mir schwirrte schon jetzt der Kopf, dabei wusste ich eigentlich noch gar nichts. Abgesehen von der Tatsache, dass ich mein langweiliges
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